Leitsatz (amtlich)

Zur Strafbarkeit des Unterlassens von Rettungsmaßnahmen bei einem freiverantwortlichen Suizid nach zuvor aktiv geleisteter Beihilfe.

 

Verfahrensgang

LG Hamburg (Entscheidung vom 11.12.2015)

 

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hamburg wird der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 11. Dezember 2015 aufgehoben, soweit mit diesem die Eröffnung des Hauptverfahrens betreffend den Angeschuldigten Dr. S. abgelehnt worden ist, und die Anklage der Staatsanwaltschaft Hamburg vom 5. Mai 2014 (Geschäfts-Nr.: 3490 Js 76/12) hinsichtlich des Angeschuldigten Dr. S. zur Hauptverhandlung zugelassen.

2. Das Hauptverfahren wird vor einer allgemeinen Großen Strafkammer des Landgerichts Hamburg eröffnet.

3. Im Übrigen wird die sofortige Beschwerde verworfen.

4. Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens hinsichtlich des Angeschuldigten Dr. K. sowie die notwendigen Auslagen dieses Angeschuldigten.

 

Gründe

I.

Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Hamburg vom 5. Mai 2014 legt den Angeschuldigten Dr. S und Dr. K. in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen gemeinschaftlich begangenen Totschlag in mittelbarer Täterschaft zur Last. Sie sollen in der Zeit vom 9. September 2012 bis zum 10. November 2012, Dr. K. als Vorsitzender des Vereins SterbeHilfeDeutschland (StHD) e.V. und Dr. S., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, als psychiatrischer Sachverständiger, gemeinsam die zum Tatzeitpunkt 85jährige W. und die 81jährige M. zunächst über die Freiverantwortlichkeit und "Wohlerwogenheit" ihres Sterbewunsches getäuscht haben, indem Dr. S. in einem psychiatrischen Gutachten deren jeweiligen Sterbeentschluss als frei von Mängeln und "wohlerwogen" diagnostiziert habe, obwohl keine vollständige Aufklärung und Beratung über Lebensalternativen erfolgt sei, und die Sterbewilligen sodann durch Bereitstellung tödlicher Medikamente getötet haben. Die Schwurgerichtskammer hat die Eröffnung des Hauptverfahrens mit Beschluss vom 11. Dezember 2015 aus tatsächlichen Gründen abgelehnt. Gegen diesen Beschluss wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer sofortigen Beschwerde.

II.

Die gemäß § 210 Abs. 2 statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 311 Abs. 2, § 306 Abs. 1 StPO) sofortige Beschwerde ist begründet, soweit der Angeschuldigten Dr. S. zwar nicht eines Totschlags in mittelbarer Täterschaft, wohl aber einer versuchten Tötung auf Verlangen durch Unterlassen sowie eines Betäubungsmitteldeliktes hinreichend verdächtig ist, im Übrigen aber unbegründet.

1. Der Senat geht aufgrund der bisherigen Ermittlungen von folgendem Tatgeschehen aus:

a) Die 85jährige Frau W. und die 81jährige Frau M., beide kinderlos, alleinstehend bzw. verwitwet, lebten gemeinsam in einer Wohnung in Hamburg. Sie fühlten sich als Schwestern und unterstützten sich gegenseitig. Beide waren politisch interessiert und über aktuelles Geschehen informiert, wobei sie sich vor dem Hintergrund der Finanzkrise Sorgen um einen möglichen Wohnungsverkauf machten. Sie waren wohlhabend, hatten einen großen gemeinsamen Bekanntenkreis, spielten lange bis in ihre 70er Jahre Tennis und besuchten bis wenige Monate vor ihrem Tod ein Fitness-Studio. Darüber hinaus unternahmen sie bis zuletzt zahlreiche Reisen und spielten mehrmals wöchentlich Bridge.

Frau W. war ca. zehn Jahre vor ihrem Tod an Krebs in der Mundschleimhaut erkrankt, der nun erneute Behandlung erforderte. Sie litt an einer Knötchenflechte (hypertropher Lichen ruber), zunächst im Mund, im Todesjahr zudem auch an den Beinen, von wo aus sich die Krankheit über den Körper ausbreitete, schmerzte, juckte und blutete. Sie hatte zudem eine chronische Bronchitis und Herzprobleme. In den letzten drei bis vier Monaten ließen ihre Kräfte rapide nach, bereits kurze Wege zum Einkaufen strengten sie sehr an.

Frau M. litt an grünem und grauem Star sowie einer Makuladegeneration, ein sechs Jahre zurückliegender Bandscheibenvorfall bereitete ihr erneut Beschwerden ebenso wie häufige Blasenentzündungen. Sie pflegte die Hautkrankheit von Frau W. und fühlte sich dadurch belastet und gelegentlich überfordert.

Beide hatten angesichts fortschreitenden Alters ca. drei Jahre vor ihrem Tod ihre langjährige Haushaltshilfe gefragt, ob diese sie häuslich pflegen würde, was sie verneinte. Die später Verstorbenen besichtigten mehrere hochpreisige Seniorenheime, schlossen diese aber als Möglichkeit für sich aus, weil sie ihnen zu unpersönlich oder schlecht gelegen erschienen. Frau W. hatte wenige Wochen vor ihrem Tod das Angebot ihres Bruders und ihrer Schwägerin, zu ihnen nach Leipzig zu ziehen, abgelehnt.

Etwa zwei Jahre vor ihrem Tod unterhielten sich beide Damen mit ihrem befreundeten Bridge-Partner, dem Zeugen Wa., über Sterbehilfe, wobei der Name des Angeschuldigten Dr. K. fiel. In diesem Gespräch bat Frau M. den Zeugen Wa., ob er ihnen nicht die Telefonnummer des Sterbehilfevereins besorgen könnte, was dieser jedoch nicht tat. Zu dieser Zeit fragten beide auch den Neffen von Frau W., den Zeugen T.W., ob er ...

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