Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur kartellrechtlichen Überprüfung von Trassenentgelten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Eisenbahnverkehrsunternehmen kann gegenüber einem marktbeherrschenden Eisenbahninfrastrukturunternehmen jedenfalls dann kartellrechtliche Ansprüche wegen missbräuchlicher Preisgestaltung nach Art. 102 AEUV unabhängig von einer vorherigen Entscheidung der Regulierungsstelle geltend machen, wenn die Regulierungsstelle keine auf einer materiell-rechtlichen Prüfung beruhende rechtsverbindliche Entscheidung über die regulierungsrechtliche Zulässigkeit der verlangten Preise getroffen hat und die Eisenbahnverkehrsunternehmen auch keine Möglichkeit hatten, eine solche Entscheidung herbeizuführen (hier: Wirksamkeit der Regionalfaktoren für den Schienenpersonennahverkehr im Trassenpreissystem 2011) [Anschluss an BGH, Urteil vom 29.10.2019 - KZR 39/19 -Trassenentgelte].

2. Ein Verstoß gegen Art. 102 AEUV setzt voraus, dass das von einer missbräuchlichen Preisgestaltung betroffene Eisenbahnverkehrsunternehmen hierdurch im Wettbewerb benachteiligt wird. Dies ist nicht der Fall, wenn die missbräuchlichen Preisbestandteile - entsprechend der erklärten Zielsetzung des marktbeherrschenden Eisenbahninfrastrukturunternehmens - vollständig an die Aufgabenträger weitergereicht werden.

 

Normenkette

AEG § 14; AEUV Art. 102; GWB § 19

 

Verfahrensgang

LG Frankfurt am Main (Urteil vom 01.10.2014; Aktenzeichen 2-06 O 218/13)

 

Nachgehend

BGH (Beschluss vom 20.12.2022; Aktenzeichen KZR 84/20)

BGH (Urteil vom 05.04.2022; Aktenzeichen KZR 84/20)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 1.10.2014, 2-06 O 218/13, abgeändert und die Klage abgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

 

Gründe

I. Die Parteien streiten über die Höhe von Trassenentgelten der Beklagten für die Netzfahrplanperiode 2011.

Die Beklagte, die zum A-Konzern gehört, betreibt mehr als 80 % des gesamten Schienennetzes in Deutschland. Mit Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU), die ihr Schienennetz nutzen wollen, schließt sie regelmäßig einen Grundsatz-Infrastrukurnutzungsvertrag ab, der ihre Schienennetznutzungsbedingungen (SNB) sowie ihr Trassenpreissystem (SPS) einbezieht.

Mit Wirkung zum 1.1.2003 führte die Beklagte in ihr Trassenpreissystem für den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) einen sog. "Regionalfaktor" ein, mit dem in verschiedenen Regionalnetzen die - anhand von Streckenkategorien und bestimmten Produkt- und Sonderfaktoren ermittelten - Trassenpreise zu multiplizieren waren. Nach Angaben der Beklagten handelte es sich dabei um Regionalnetze, die keine tragfähige Kosten-Erlös-Struktur aufwiesen; die Höhe des für jedes Netz individuell festgelegten Regionalfaktors richtete sich nach dem Maß der von der Beklagten ermittelten Unterdeckung.

Die Bundesnetzagentur erklärte mit Bescheid vom 5.3.2010, Az. (Anl. K7) diese Regionalfaktoren mit Wirkung vom 12.12.2010 wegen Verstoßes gegen eisenbahnregulierungsrechtliche Vorschriften für unwirksam. Auf Widerspruch der Beklagten schlossen die Bundesnetzagentur und die Beklagte einen öffentlich-rechtlichen Vertrag, in dem sich die Beklagte verpflichtete, die Regionalfaktoren ab dem 11.12.2011 nicht mehr, und im Zeitraum vom 12.12.2010 bis zum 10.10.2011 nur noch in reduzierter Höhe anzuwenden (Anl. K8).

Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der B1 GmbH (im Folgenden: Insolvenzschuldnerin), über deren Vermögen am 1.10.2019 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde.

Bei der Insolvenzschuldnerin handelte es sich um ein privates Eisenbahnverkehrsunternehmen, das im Oktober 2010 aus der C-B GmbH (im Folgenden: C-B) hervorgegangen ist, einer Tochtergesellschaft der C-C mbH (im Folgenden: C). Sie hatte für die Fahrplanjahre 2011-2014 (beginnend mit dem 12.12.2010) mit dem Verkehrsverbund1 für das sog. Verbandsversammlung des Verkehresverbundes1 Dieselnetz einen Verkehrsvertrag abgeschlossen, mit dem sie sich zur Bedienung bestimmter Strecken im SPNV verpflichtete.

Auf der Grundlage eines im Jahre 2009 zwischen der Beklagten und der C abgeschlossenen Grundsatz-Infrastrukturnutzungsvertrages (Anl. K1) übersandte die C-B der Beklagten am 9.4.2010 eine Trassenanmeldung für das Netzfahrplanjahr 2011 (Anl. B1). Die Beklagte übersandte am 5.7.2010 einen vorläufigen Netzfahrplanentwurf (Anl. B5) und unterbreitete auf dieser Grundlage am 27.8.2010 ein verbindliches Angebot für die darin eingestellten Trassen. Darin war für einzelne Strecken der nach dem öffentlich-rechtlichen Vertrag mit der Bundesnetzagentur für das "Region1-Netz" vorgesehene Regionalfaktor von 1,61 berücksichtigt. Dieses Angebot nahm die C-B am 7.9.2020 an (B9).

Am 8./20.12.20...

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