Entscheidungsstichwort (Thema)

Anwendbarkeit von § 531 Abs. 2 ZPO, wenn Prozesspartei sich in der Berufung das erstinstanzliche Beweisergebnis zu Eigen macht?

 

Verfahrensgang

LG Lüneburg (Urteil vom 25.04.2003; Aktenzeichen 8 O 335/02)

 

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des LG Lüneburg vom 25.4.2003 wird zurückgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsrechtszuges.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Beschwer: unter 20.000 Euro.

 

Gründe

I. Der Kläger begehrt Schmerzensgeld wegen einer Knieverletzung, die ihm der damals die zweite Grundschulklasse besuchende Beklagte am 1.6.2001 auf dem Schulgelände zugefügt haben soll. An diesem Tage fand in zeitlichem Zusammenhang mit dem Schulunterricht eine körperliche Auseinandersetzung zwischen den Parteien statt, deren genaue Umstände streitig sind. Der Kläger hat erstinstanzlich behauptet, im Verlauf der Auseinandersetzung habe ihm der Beklagte gezielt durch einen Griff das Knie verdreht. Das LG hat die Klage nach Vernehmung eines Zeugen aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen abgewiesen.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Vorbringen in modifizierter Form weiter und macht sich die Sachdarstellung des vernommenen Zeugen zu Eigen. Er meint im Übrigen, die Sachdarstellung des Zeugen sei nach Tatort, Tatzeit und erlittener Verletzung nicht wesentlich abweichend vom anfänglichen Vortrag des Klägers; der Zeuge habe bestätigt, dass der Beklagte ohne erkennbaren Grund auf den Kläger losgegangen sei und ihn vorsätzlich verletzt habe. Dahingestellt bleiben könne, ob die Verletzung durch einen Sprung ins Knie, wie der Zeuge ausgesagt habe, oder durch ein Verdrehen des Knies erfolgt sei. Jedenfalls aber habe das LG auf die Bedeutung der Abweichung ausreichend hinweisen müssen, wenn es die Sachdarstellung des Zeugen zur Entscheidungsgrundlage habe machen wollen. Der Eintritt einer schweren Verletzungsfolge im Falle eines direkten Angriffs im Kniebereich sei als möglich vorauszusehen. Somit habe der Beklagte den Eintritt des Erfolges billigend in Kauf genommen und bedingt vorsätzlich gehandelt. Die Zufügung körperlicher Schmerzen ziehe in der Regel eine Verletzung des von der Handlung betroffenen Körperteils nach sich. Diese Verknüpfung sei auch einem Jugendlichen im Alter des Beklagten zugänglich.

Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und bestreitet ohne weiteren Beweisantritt sowohl die Verlaufsschilderung des Klägers als auch die Angaben des Zeugen. Das LG habe in der mündlichen Verhandlung die Konsequenzen der Beweisaufnahme erörtert.

II. Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist nicht begründet, weil ein deliktischer Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB wegen der Enthaftungsregelung im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nicht gegeben ist.

1a) Der Kläger stützt seine Klage in der Berufungsinstanz auf neues Vorbringen, weil er sich erst mit der Berufungsbegründung die von seinem erstinstanzlichen Sachvortrag erheblich abweichende Aussage des erstinstanzlich vernommenen Zeugen zu Eigen gemacht hat. Entgegen der Ansicht des Klägers stimmt die Darstellung des Zeugen nicht im Wesentlichen mit dem Geschehensablauf überein, den der Kläger vorgetragen hat. Die Unterschiede sind im Hinblick auf die spezifischen Vorsatzerfordernisse der Haftung für eine schulbezogene Verletzung (nachfolgend 2.) relevant. An einer eigenmächtigen Verwertung der Sachdarstellung des Zeugen war das LG aufgrund der Verhandlungsmaxime gehindert (vgl. dazu BGH v. 19.1.1990 - V ZR 241/88, MDR 1990, 707 = NJW-RR 1990, 507; Musielak, ZPO, 3. Aufl. 2002, Einl. Rz. 37). Den Prozessvertreter des Klägers auf dieses Grundprinzip des Zivilprozessrechts hinzuweisen, hatte das LG keinen Anlass; erst recht brauchte es ihm seinen eigenen klagebegründenden Vortrag nicht in Erinnerung zu rufen.

b) Der Senat hat erhebliche Bedenken, das neue Vorbringen des Klägers in der Berufungsinstanz zuzulassen, braucht dazu aber keine abschließende Entscheidung zu treffen, weil die Klage auch auf der Grundlage dieses Vorbringens unbegründet ist. Der Zulassung des zweitinstanzlichen Vorbringens steht der Wortlaut des § 531 Abs. 2 ZPO entgegen. Der Kläger hat in der Verhandlung vor dem Senat keine Gründe vorzutragen vermocht, aus denen sich ergibt, dass er nicht nachlässig gehandelt hat, als er die Geltendmachung der nunmehrigen Sachdarstellung in erster Instanz unterließ (§ 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO); er musste schließlich selbst am besten wissen, wie er verletzt worden ist. Die ZPO-Reform des Jahres 2001 wollte die Ermittlung des entscheidungserheblichen Prozessstoffes grundsätzlich auf die erste Instanz konzentrieren, um damit für eine schonende Inanspruchnahme der Rechtsprechungsressourcen zu sorgen (vgl. nur Rimmelspacher in MünchKomm/ZPO, Ergänzungsband, 2. Aufl. 2002, § 531 Rz. 1). Allerdings wird die Auffassung vertreten, in erster Instanz zurückgewiesene Angriffs- und Verteidigungsmittel, die nach § 531 Abs. 1 ZPO präkludiert sind, ohne dass es darau...

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