Entscheidungsstichwort (Thema)

Verschulden beim Auffahrunfall zwischen Vorfahrtsberechtigtem und Einbiegendem; Art und Umfang der Wartepflicht nach § 8 StVO

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Anscheinsbeweis greift gegenüber dem Auffahrenden nicht ein, wenn das vordere Fahrzeug sich im Zeitpunkt der Kollision noch in Bewegung befand und erst wenige Augenblicke vor dem Auffahrunfall auf den Fahrstreifen des Auffahrenden gefahren ist.

2. Der Vorfahrtsberechtigte muss bei erkennbarer Vorfahrtsverletzung sofort reagieren. Eine verspätete Reaktion begründet den Vorwurf des Mitverschuldens.

3. Kommt es im Zusammenhang mit dem Einbiegen in die Vorfahrtstraße zu einem Unfall, spricht der Anschein für eine schuldhafte Vorfahrtverletzung. Dies gilt auch dann, wenn der Berechtigte auf der Vorfahrtstraße auf ein einbiegendes, wartepflichtiges Fahrzeug außerhalb des Einmündungsbereichs auffährt und der Eingebogene die Normalgeschwindigkeit noch nicht erreicht hat.

 

Normenkette

StVG §§ 7, 17; StVO § 8

 

Verfahrensgang

LG Verden (Aller) (Aktenzeichen 5 O 122/98)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten und des Widerklägers wird das am 12.9.2000 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des LG Verden teilweise geändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 6.296,93 DM nebst 4 % Zinsen auf 11.349,90 DM vom 30.3.1998 bis zum 11.12.2000 sowie 4 % Zinsen auf 6.296,93 DM ab 12.12.2000 zu zahlen.

Der Kläger und die Drittwiderbeklagte werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Beklagten zu 1) 718,37 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 12.5.1998 zu zahlen.

Im Übrigen werden Klage und Widerklage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Parteien wie folgt: Die Gerichtskosten trägt der Kläger zu 65 %, der Kläger und die Drittwiderbeklagte gesamtschuldnerisch zu weiteren 2 %, die Beklagten zu 1) und zu 2) gesamtschuldnerisch zu 32 % und der Beklagte zu 1) allein zu 1 %. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers tragen die Beklagten gesamtschuldnerisch zu 32 %, der Beklagte zu 1) allein zu 1 %. Die außergerichtlichen Kosten der Drittwiderbeklagten trägt der Beklagte zu 1) zu 33 %, die der Beklagten zu 2) der Kläger zu 67 % und die des Beklagten zu 1) der Kläger zu 65 % sowie der Kläger gesamtschuldnerisch mit der Drittwiderbeklagten zu weiteren 2 %. i.Ü. tragen die Parteien ihre Kosten selbst.

Die Kosten des Rechtsstreits zweiter Instanz tragen die Parteien wie folgt: Die Gerichtskosten und außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 1) trägt der Kläger zu 97 % und der Kläger gesamtschuldnerisch mit der Drittwiderbeklagten zu weiteren 3 %. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2) trägt der Kläger zu 100 %; i.Ü. findet eine Kostenerstattung nicht statt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Beschwer der Parteien: jeweils unter 60.000 DM.

 

Gründe

Die Berufung der Beklagten, mit der sie eine Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des Klägers und der Drittwiderbeklagten erstreben, ist begründet.

I. Der Kläger hat gegen die Beklagten als Gesamtschuldner gem. § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 3 Nr. 1 PflVG einen Anspruch auf Schadensersatz i.H.v. insgesamt 6.296,93 DM, nachdem die Parteien den Rechtsstreit bezüglich der Klage in der Hauptsache i.H.v. 25.249,43 DM übereinstimmend für erledigt erklärt haben, weil der Kläger insoweit zwischenzeitlich Leistungen aus der für sein Fahrzeug bestehenden Vollkaskoversicherung erhalten hat.

1. Dem Grunde nach haften die Beklagten gesamtschuldnerisch nur zu 1/3 für die in Folge des Verkehrsunfalls vom 9.1.1998 entstandenen Schäden des Klägers.

Bei der nach § 17 Abs. 1 S. 2 StVG zutreffenden Abwägung der wechselseitigen Mitverschuldens- und Mitverursachungsbeiträge ist Folgendes zu berücksichtigen:

a) Zutreffend rügen die Beklagten mit der Berufung, dass ein Anscheinsbeweis für einen Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 3 Abs. 1 S. 1, 4 Abs. 1 S. 1 StVO, wie ihn das LG angenommen hat, nicht zu Gunsten des Klägers streitet. Ein Anscheinsbeweis liegt nicht vor, weil sich ein typischer Geschehensablauf, der nach der Lebenserfahrung für ein zu schnelles und/oder unaufmerksames Fahren des Beklagten zu 1) mit zu geringem Abstand sprechen könnte, nicht feststellen lässt. Nach dem Gutachten des Sachverständigen O. ist nicht – wie der Kläger behauptet – festzustellen, dass die Drittwiderbeklagte mit dem Fahrzeug bereits gestanden hat, als der Beklagte zu 1) auf ihr Fahrzeug auffuhr. Vielmehr hat der Sachverständige O. ermittelt, dass sich das Fahrzeug der Drittwiderbeklagten noch mit 10 bis 25 km/h in Bewegung befunden habe, als der Beklagte zu 1) auf das Heck aufgeprallt sei. Auf Grund der Weg-Zeit-Berechnung des Sachverständigen ist ferner anzunehmen, dass die Drittwiderbeklagte erst wenige Augenblicke vor dem Auffahrunfall in den Fahrstreifen des Auffahrenden eingefahren ist. Hierfür spricht klar die Kollisionsstelle, die nur wenige Meter hinter der Einmündung liegt. Bei dieser Sachlage greift der Anscheinsbeweis nicht ein (vgl. OLG Cel...

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