Entscheidungsstichwort (Thema)

Arglistige Täuschung durch den Versicherungsnehmer bei Abschluss eines Versicherungsvertrages: zur Frage, ob eine Aufklärungspflicht auch in Bezug auf Umstände bestehen kann, nach denen der Versicherer nicht gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 VVG in Textform gefragt hat

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Versicherer kann auch dann zur Anfechtung des Versicherungsvertrages wegen arglistiger Täuschung berechtigt sein, wenn der Versicherungsnehmer bei dem Vertragsschluss Umstände verschwiegen hat, nach denen der Versicherer nicht gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 VVG n.F. in Textform gefragt hat.

2. Über die Anzeigepflicht aus § 19 Abs. 1 Satz 1 VVG hinaus kann sich - aus Treu und Glauben - auch eine Aufklärungspflicht des Versicherungsnehmers in Bezug auf nicht oder nicht ordnungsgemäß in Textform erfragte Umstände ergeben. Es kann dem Versicherungsnehmer jedoch in der Regel nicht als Verstoß gegen Treu und Glauben angelastet werden, wenn er den Fragenkatalog des Versicherers als abschließend ansieht und keine weitergehenden Überlegungen dazu anstellt, welche Umstände für den Versicherer darüber hinaus von Interesse sein könnten. Nach der gesetzlichen Wertung obliegt zunächst dem Versicherer die Mitteilung der Umstände, die er für gefahrerheblich ansieht. Eine spontane Anzeigepflicht besteht daher nur bei Umständen, die zwar offensichtlich gefahrerheblich, aber so ungewöhnlich sind, dass eine auf sie abzielende Frage nicht erwartet werden kann.

3. Bei dem Abschluss einer Pflegeversicherung für ein Kleinkind besteht keine Aufklärungspflicht hinsichtlich einer Entwicklungsverzögerung, wenn der Versicherer hiernach in seinem umfangreichen Fragenkatalog nicht gefragt hat, obwohl diese bereits in seinem System als Ablehnungsgrund hinterlegt war.

 

Normenkette

BGB § 123 Abs. 1; VVG § 19 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

LG Hannover (Urteil vom 30.03.2015; Aktenzeichen 2 O 224/14)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 30.3.2015 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des LG Hannover abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 19.850 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 7.11.2015 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz werden gegeneinander aufgehoben. Die Kosten der Berufungsinstanz tragen der Kläger zu 1/3 und die Beklagte zu 2/3.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird wie folgt festgesetzt:

a) für die erste Instanz sowie für die in der Berufungsinstanz angefallenen Gerichtsgebühren und anwaltlichen Verfahrensgebühren

auf bis zu 40.000 EUR

b) für die in der Berufungsinstanz angefallenen Terminsgebühren auf 21.350 EUR.

 

Gründe

A. Der Kläger hat die Feststellung des Fortbestands einer mit Antrag vom 24.6.2013 abgeschlossenen Pflegetagegeldversicherung für seinen am 13.6.2011 geborenen Sohn K. M. begehrt. Nach einer in der Berufungsinstanz vorgenommenen Klagänderung verlangt er nunmehr primär die Zahlung von Pflegetagegeld aus dieser Versicherung.

Am 16.5.2012 wurde die U6-Untersuchung des Kindes durchgeführt. Auf dem Untersuchungsblatt ist angegeben, nach dem Gesamteindruck sei das Kind nicht altersgemäß entwickelt. U.a. wird eine "mot. Entw. verzög. (ICD F 82.9)" genannt (Bl. 50 d.A.).

Zur Durchführung einer MRT-Aufnahme des Schädels befand sich das versicherte Kind vom 14. auf den 15.11.2012 im Kinder- und Jugendkrankenhaus... in H. Die MRT-Bilder zeigten lediglich eine "leichte Betonung der inneren und äußeren Liquorräume supratentoriell", ansonsten waren sie ohne Befund (s. Arztbrief vom 3.12.2012, Bl. 57 d.A.).

Am 21.2.2013 suchte die Mutter des versicherten Kindes den Facharzt für Humangenetik Dr. B. S. zur genetischen Beratung auf. In dessen schriftlicher Beurteilung ist eine "Entwicklungsverzögerung um etwa 8 Monate" aufgeführt (Anlage B 4, Bl. 94 d.A.). Als Beratungsergebnis ist festgehalten, dass anlässlich der U7-Untersuchung des Kindes eine Chromosomenanalyse durchgeführt werden solle.

Auf dem Untersuchungsblatt für die U7-Untersuchung vom 24.5.2013 ist in dem Feld "Gesamteindruck: Kind altersgemäß entwickelt" nichts angekreuzt. Unter "sonstige Bemerkungen" heißt es: "globale Entwicklungsverzögerung (macht zuletzt tolle Fortschritte)" (Bl. 51 d.A.).

Am 4.6.2013 wurde dem Kind für die genetische Untersuchung Blut entnommen.

Am 24.6.2013 beantragte der Kläger bei der Beklagten für seinen Sohn als versicherte Person den Abschluss einer Pflegeversicherung (Bl. 6 ff. d.A.). Der Antrag beinhaltete Gesundheitsangaben zur Pflegeversicherung.

Verneint wurden die Fragen:

P1 Besteht bereits eine Pflegebedürftigkeit oder wurde jemals ein Antrag auf Leistungen aus einer privaten oder gesetzlichen Pflegeversicherung gestellt?

P2 Besteht oder bestand in den letzten 6 Jahren eine der genannten Erkrankungen oder Folgen davon: Demenz (z.B. Alzheimer, vaskuläre Demenz), Wachkoma, Parkinson, Chorea Huntington, Creutzfeld-Jacob, HIV, Krebs, Hir...

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