Entscheidungsstichwort (Thema)

Materielle und formelle Voraussetzungen einer Gewaltschutzanordnung; Vorrang der Neuentscheidung nach mündlicher Verhandlung vor Antrag auf Änderung oder Aufhebung einer einstweiligen Anordnung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Vor Neuentscheidung nach mündlicher Verhandlung gem. § 54 Abs. 2 FamFG fehlt einem Antrag auf Aufhebung oder Änderung der ohne mündliche Verhandlung ergangenen einstweiligen Anordnung gem. § 54 Abs. 1 FamFG das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.

2. Wendet sich der Beteiligte, gegen den das AG ohne vorherige Gewährung rechtlichen Gehörs und ohne mündliche Verhandlung eine einstweilige Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz erlassen und darin zutreffend darauf hingewiesen hat, dass der einzig statthafte Rechtsbehelf ein Antrag auf Neuentscheidung nach mündlicher Verhandlung ist, mit einem als "Widerspruch" bezeichneten Schreiben gegen den ergangenen Beschluss, beruft sich dabei ausdrücklich auf die bislang nicht erfolgte eigene Anhörung und nimmt darin das Vorliegen der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für eine Gewaltschutzanordnung in Abrede, kommt eine "Auslegung" dieses Begehrens als - erneut ohne mündliche Verhandlung zu bescheidender - Antrag auf Aufhebung oder Änderung der einstweiligen Anordnung gem. § 54 Abs. 1 FamFG nicht in Betracht.

3. Eine einstweilige Anordnung, mit der der Antragsgegner ein strafbewehrtes Abstandsgebot von "der Wohnung" der Antragstellerin aufgebeben wird, muss eine konkrete Bezeichnung der fraglichen Wohnung enthalten.

4. Eine Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz dient nicht der Durchsetzung beliebiger anderweitig gesetzlich angeordneter oder sonst wünschenswerter Verhaltensweisen im persönlichen Nahbereich, sondern ist beschränkt auf eben die in den §§ 1 und 2 GewSchG genannten qualifizierten Fälle, deren Vorliegen im Einzelfall positiv festgestellt werden muss. Insofern können insbesondere behauptete Sachbeschädigungen oder Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts außerhalb der von § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 lit. b GewSchG erfassten Fälle eine Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz in keinem Fall begründen (Bekräftigung und Fortführung von Senatsbeschluss vom 19.3.2012 - 10 UF 9/12 - juris = BeckRS 2012, 07601).

 

Normenkette

FamFG § 54 Abs. 1-2; GewSchG § 1 Abs. 1-2

 

Verfahrensgang

AG Hannover (Beschluss vom 31.08.2012; Aktenzeichen 619 F 2871/12)

 

Tenor

Der Beschluss des AG - Familiengericht - Hannover vom 31.8.2012 wird aufgehoben. Die Sache wird zur Entscheidung über das tatsächlich gestellte Verfahrenskostenhilfegesuch des Antragsgegners für das einstweilige Anordnungsverfahren an das AG zurückverwiesen.

 

Gründe

I. Die Antragstellerin ist Radiomoderatorin und hat - unter Angabe ausschließlich der Anschrift ihres Arbeitgebers - den Antragsgegner im vorliegenden Verfahren auf Unterlassung nach dem Gewaltschutzgesetz in Anspruch genommen. Dazu werden - abgesehen von allgemeinen Hinweisen auf im Internet über den Antragsgegner auffindbare Aussagen (unbekannter) Dritter - von ihr vorgetragen:

  • vom Antragsgegner ausschließlich zwischen dem 16. und 20.4.2012 an eine - von ihrem Sender ausdrücklich insofern eröffnete - E-Mail-Anschrift gerichtete mehrfache E-Mail-Sendungen,
  • zwei- bzw. einmaliges nächtliches Klingeln an ihrer Wohnungstür in den Nächten vom 19. auf den 20, vom 20. auf den 21. und vom 21. auf den 22.4.2012, bei dem allerdings ein irgend gearteter tatsächlicher Zusammenhang mit dem Antragsgegner - ungeachtet der gewählten Formulierung "offenbar" - nicht dargetan ist,
  • ein dem Antragsgegner zugeschriebener einmaliger Aufenthalt gegenüber der Wohnung der Antragstellerin am 24.5.2012 gegen 19:00 Uhr, bei der es nach den ausdrücklichen eigenen Angaben der Antragstellerin allerdings zu keinerlei Versuch einer Kontaktaufnahme mit ihr gekommen ist,
  • eine in der Nacht vom 24. auf den 25.5.2012 erfolgte Sachbeschädigung am Pkw der Antragstellerin, für den ein konkreter Zusammenhang mit dem Antragsgegner nicht dargetan wird,
  • eine Ende Mai 2012 eingegangene anonyme Briefsendung an die Antragstellerin über die Anschrift ihres Arbeitgebers, für die ebenfalls ein konkreter Zusammenhang mit dem Antragsgegner nicht dargetan wird,
  • die zeitweilige Einstellung der von der Antragstellerin inkriminierten genannten E-Mails sowie von zwei Antworten durch den "Hörerservice" ihres Arbeitgebers in seinem blog im Rahmen der Zurückweisung des gegen ihn erhobenen "Stalking"-Vorwurfes.

Das AG hat die beantragte Anordnung, die auch ein Annäherungsverbot auf 300 m (!) an die Antragstellerin und deren "Wohnung" beinhaltet, ohne vorherige Anhörung des Antragsgegners und ohne mündliche Verhandlung mit einer sechsmonatigen Befristung erlassen. In dem Beschluss ist - zutreffend - darauf hingewiesen, dass gem. § 54 Abs. 2 FamFG durch das AG auf Antrag aufgrund mündlicher Verhandlung neu zu entscheiden und die Entscheidung im Übrigen nicht anfechtbar sei.

Diesem Anordnungsbeschluss ist der Antragsgegner beim AG in Schreiben vom 19.6.2012 sowie vom 1.8.2012, fü...

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