Entscheidungsstichwort (Thema)

Insolvenzrecht: Berufung eines Unternehmens auf die Unkenntnis der Insolvenzeröffnung zum Zeitpunkt der Erfüllung einer Verbindlichkeit trotz möglicher Internetabfrage

 

Leitsatz (amtlich)

1. Hat ein Versicherungsunternehmen zur Erfüllung einer Verbindlichkeit an einen Insolvenzschuldner geleistet, ohne dass das Unternehmen die Eröffnung des Insolvenzverfahrens kannte, hindert die Möglichkeit, diese Information durch implementierten Datenabgleich oder Einzelabfrage aus dem Internet unter www.insolvenzbekanntmachungen.de zu gewinnen, das Unternehmen nicht daran, sich auf Unkenntnis der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu berufen.

2. Ob dabei die Möglichkeit bestand, mit verhältnismäßig geringem Aufwand Insolvenzbekanntmachungen im Internet programmgesteuert mit eigenen Kundendaten abzugleichen und wesentliche Informationen fortlaufend zu übernehmen, ist dabei nicht relevant (insoweit gegen BGH, Urt. v. 15.4.2010 - IX ZR 62/09).

 

Normenkette

InsO §§ 9, 82

 

Verfahrensgang

LG Bremen (Urteil vom 29.08.2013; Aktenzeichen 6 O 1767/12)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 09.10.2014; Aktenzeichen IX ZR 41/14)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des LG Bremen vom 29.8.2013, Geschäfts-Nr. 6-O-1767/12, wird zurückgewiesen. Das angefochtene Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger trägt die Kosten der Berufung.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger bleibt nachgelassen, die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des insgesamt vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf EUR 139.931,96 festgesetzt.

 

Gründe

I. Der Kläger nimmt die Beklagte in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter auf nochmalige Auszahlung von Versicherungsleistungen in Anspruch.

Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der M. GmbH (im Folgenden: Insolvenzschuldnerin), deren Geschäftsführer H. (im Folgenden: Versicherter) war. Auf den Antrag vom 16.1.2012 wurde am selben Tag durch das AG Bremen die Bestellung des Klägers zum vorläufigen Insolvenzverwalter angeordnet, der Insolvenzschuldnerin ein Zustimmungsvorbehalt gem. § 21 Abs. 2 Nr. 2, Alt. 2 InsO auferlegt und der Kläger ermächtigt, Forderungen der Insolvenzschuldnerin einzuziehen. Zugleich wurden die Drittschuldner aufgefordert, nur noch unter Beachtung dieser Anordnungen zu leisten.

Diese Anordnungen wurden ebenfalls am 16.1.2012 im amtlichen Internetportal www.insolvenzbekanntmachungen.de gem. § 9 Abs. 1 InsO öffentlich bekannt gemacht. Zwischen den Parteien war erstinstanzlich unstreitig, dass die Beklagte von dieser Bekanntmachung keine positive Kenntnis hatte, weil sie weder eine Einzelabfrage tätigte noch einen automatisierten Datenabgleich ihrer Kundendaten mit dem Internetportal implementiert hatte.

Die Insolvenzschuldnerin unterhielt bei der Beklagten für den Geschäftsführer H. als Versicherten u.a. eine Rentenversicherung und eine kapitalbildende Lebensversicherung/Rückdeckungsversicherung zur Deckung einer ihm erteilten Pensionszusage. Auf die Aufforderung des Versicherten zahlte die Beklagte am 7.2.2012 den kapitalisierten Rentenwert aus der Rentenversicherung i.H.v. EUR 40.774,41 an dessen Tochter aus. Sodann brachte die Beklagte am 27.4.2012 auf die Aufforderung des Versicherten auch den Rückkaufswert der Lebensversicherung i.H.v. EUR 99.157,57 an diesen direkt zur Auszahlung. Mithin zahlte die Beklagte nach Eröffnung des vorläufigen Insolvenzverfahrens und nach öffentlicher Bekanntmachung der nach § 21 Abs. 2 Nr. 2, Alt. 2 InsO angeordneten Verfügungsbeschränkungen insgesamt EUR 139.931,98 an den Versicherten.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, dass die Beklagte verpflichtet sei, die an den Versicherten zur Auszahlung gebrachten Leistungen nochmals an die Insolvenzmasse zu erbringen, da die der Masse zustehenden Zahlungen nicht mit schuldbefreiender Wirkung gem. § 362 BGB i.V.m. § 82 InsO erfolgt seien. Die Beklagte könne sich nicht mit Erfolg auf Ihre Unkenntnis von dem vorläufigen Insolvenzverfahren und den angeordneten Verfügungsbeschränkungen berufen, da sie es unterlassen habe, vor den Auszahlungen einen ihr ohne großen Aufwand möglichen und den Organisationspflichten genügenden automatisierten Datenabgleich mit dem Internetportal www.insolvenzbekanntmachungen.de zu implementieren. Als Finanzdienstleistungsunternehmen habe die Beklagte dafür Sorge zu tragen, dass ihre Entscheidungsträger bzw. die zur Vornahme von Rechtsgeschäften bevollmächtigten Mitarbeiter ihre Kunden betreffende Informationen über die Eröffnung von Insolvenzverfahren oder die Sicherungsmaßnahmen im Vorfeld zur Kenntnis nehmen. Eine solche Organisationsobliegenheit bestehe gerade dann, wenn der automatisierte Datenabgleich der eigenen Kundendaten mit den Insolvenzveröffentlichungen, wie hier, ohne großen technischen und personellen Aufwand mö...

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