Entscheidungsstichwort (Thema)

Beschleunigungsrüge/Beschleunigungsbeschwerde: Kein Verstoß gegen das Vorrang- und Beschleunigungsgebot in Kindschaftssachen, wenn eine Verfahrensverzögerung noch nicht eingetreten ist, sondern lediglich droht

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot in Kindschaftssachen gemäß § 155 Abs. 1 FamFG dient der Vermeidung einer allein durch Zeitablauf verursachten faktischen Präjudizierung von Sachentscheidungen, die durch Verfestigung bzw. Veränderung von Bindungs- und Beziehungsverhältnissen während des Verfahrens eintreten kann. Das Beschwerdegericht hat unter Beachtung dieses Gesetzeszwecks bei der Beschleunigungsbeschwerde am Maßstab des Kindeswohls zu prüfen, ob das Ausgangsgericht die notwendigen verfahrensfördernden Maßnahmen getroffen hat und das bisherige Verfahren den Anforderungen des § 155 Abs. 1 FamFG entspricht.

2. Mit der Beschleunigungsrüge kann nur eine bereits tatsächlich eingetretene, nicht aber eine möglicherweise drohende Verfahrensverzögerung (hier wegen nach Auffassung des Beschwerdeführers zu großzügig bemessener Fristsetzung für die Erstellung eines Sachverständigengutachtens von 6 Monaten) gerügt werden.

3. Für die Annahme eines Verstoßes gegen das Vorrang- und Beschleunigungsgebot genügt es nicht, dass zwischen Erlass und Zustellung eines Beweisbeschlusses zur Einholung eines Sachverständigengutachtens ein Monat vergangen ist.

 

Normenkette

FamFG §§ 155, 155b, 155c

 

Verfahrensgang

AG Bremen (Beschluss vom 05.01.2017; Aktenzeichen 71 F 5176/16)

 

Tenor

Die Beschleunigungsbeschwerde der Kindesmutter gegen den Beschluss des AG Bremen vom 05.01.2017 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Kindesmutter.

Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf EUR 1.000,00 festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Kindesmutter rügt, dass die bisherige Verfahrensdauer in der vorliegenden

Kindschaftssache nicht dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot nach § 155 Abs. 1 FamFG entspricht (Beschleunigungsrüge).

Die Kindesmutter ist die allein sorgeberechtigte Mutter ihrer am 16.02.2008 geborenen Tochter X.. X. hat mütterlicherseits zwei ältere Halbgeschwister, die im Haushalt von deren Vater leben. Aufgrund einer im Mai 2013 angezeigten Kindeswohlgefährdung kam es zu Sorgerechtsverfahren beim AG Bremen (69 F 1541/13 EASO und 71 F 1540/13 SO), in denen das Gericht ein Gutachten über eine Kindeswohlgefährdung durch den Sachverständigen Dipl.-Psych. A. einholte. Gleichzeitig führten die Kindeseltern einen Zivilrechtsstreit vor dem AG T. zum dortigen Az. 31 C 23/13. In diesem Verfahren nahm die Kindesmutter den Kindesvater auf Unterlassung bestimmter Äußerungen in Anspruch. Im Vollstreckungsverfahren reichte der Kindesvater Lichtbilder aus der Zeit zwischen Mitte 2008 und Juni 2010 ein, die die Kindeseltern u.a. zusammen mit X. als Säugling/Kleinkind zeigten. Dabei handelte es sich überwiegend um Aufnahmen, die sexuelle Handlungen im Beisein des Kindes zeigten. Wegen dieser Vorfälle wurde die Kindesmutter später vom AG T. durch Strafbefehl vom 20.01.2015 (Az. [...]) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Monaten auf Bewährung verurteilt.

Mit Beschluss des AG Bremen vom 03.10.2013 im einstweiligen Anordnungsverfahren zum Az. 69 F 3619/13 EASO sind der Kindesmutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht sowie die Gesundheitsfürsorge für X. vorläufig entzogen und dem Jugendamt - Fachdienst Amtsvormundschaft - übertragen worden. Diesen Beschluss hat das AG nach mündlicher Verhandlung am 10.11.2013 aufrechterhalten. X. befand sich seit dem 10.10.2013 zunächst in einem Kinderheim und seit dem 01.08.2014 in einer Pflegestelle. Im Hauptsacheverfahren vor dem AG Bremen (Az. 71 F 1540/13 SO) erklärte sich die Kindesmutter mit einer Fremdplatzierung ihre Tochter einverstanden. Deshalb wurde die alleinige elterliche Sorge für X. unter Aufhebung des o.g. Beschlusses auf die Kindesmutter zurückübertragen. Die Kindesmutter hatte regelmäßig Umgangskontakte mit X.. Aktuell gibt es unbegleiteten Umgang an jedem zweiten Wochenende im Haushalt der Kindesmutter, wobei X. einmal im Monat bei der Kindesmutter übernachtet.

Mit Schriftsatz vom 05.09.2016, eingegangen beim AG Bremen am 09.09.2016, beantragte die Kindesmutter im vorliegenden Verfahren, ihre Tochter X. an sie herauszugeben.

Nach verschiedenen vorbereitenden Verfügungen, der Bestellung eines Verfahrensbeistandes und der Einbeziehung des Kindesvaters in das Verfahren wurde durch die Familienrichterin mit Verfügung vom 31.10.2016 Termin zur Erörterung für den 29.11.2016 anberaumt. In jenem Termin wurde das Verfahren ausweislich des Anhörungsvermerks umfassend erörtert. Die Familienrichterin teilte den Beteiligten mit, dass sie beabsichtige, ein Sachverständigengutachten einzuholen, zunächst zur Erziehungsfähigkeit der Kindesmutter. Sie habe bereits mit dem Sachverständigen Dipl.-Psych. A., der schon in dem vorangehenden Verfahren ein Gutachten erstellt hatte, geklärt, dass Kapazitäten für ein Gutachten vorhanden seien. Sie teilte d...

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