Entscheidungsstichwort (Thema)

Pflichtverteidiger. Beiordnung. Bestellung. rückwirkend. Rechtskraft. Berufung. Beschwer. Beschwerde. Bewilligungsantrag. fair. Zuständigkeit. funktional. Gesetzesänderung. Kollegialgericht. Spruchkörper. Kammer. Prozesskostenhilfe. Rechtsstaatsprinzip. Staatskasse. Vergütungsanspruch. Verzögerung. Vorsitzender. Wahlverteidiger. Wiederholungsgefahr. Zurückverweisung. Wirksamkeit rückwirkender Beiordnung eines Pflichtverteidigers

 

Leitsatz (amtlich)

1. Entscheidet das Kollegialgericht anstatt des nach § 142 Abs. 3 Satz 3 StPO zuständigen Kammervorsitzenden über die Pflichtverteidigerbestellung, so ist die Entscheidung auf eine zulässige sofortige Beschwerde hin aufzuheben. Eine Zurückverweisung der Sache an den Vorsitzenden der Strafkammer ist jedoch regelmäßig nicht geboten. Das Beschwerdegericht hat vielmehr gemäß § 309 Abs. 2 StPO die in der Sache erforderliche Entscheidung selbst zu treffen (Festhaltung an OLG Bamberg, Beschl. v. 08.04.2021 - 1 Ws 195/21 bei juris).

2. Auch nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens ist einem Angeklagten rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die sachlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers vorlagen und der Antrag auf Bestellung noch vor dem rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt, aber nicht bzw. nicht vorab verbeschieden wurde (entgegen OLG Hamburg, Beschl. v. 16.09.2020 - 2 Ws 112/20 = StraFo 2020, 486; OLG Bremen, Beschl. v. 23.09.2020 - 1 Ws 120/20 = NStZ 2021, 253 = OLGSt StPO § 140 Nr 42; OLG Braunschweig, Beschl. v. 02.03.2021 - 1 Ws 12/21 u. KG Beschl. v. 04.09.2020 - Ws 217/19, jew. bei juris).

3. Durch die Zurückweisung eines die Bestellung eines Pflichtverteidigers zurückweisenden Beschlusses ist der Angeklagte auch nach Eintritt der Rechtskraft eines gegen ihn ergangenen Urteils beschwert.

 

Normenkette

BtMG § 29a; StGB § 12; StPO § 140 Abs. 1 Nr. 2, § 141 Abs. 1 S. 1, § 142 Abs. 3 Nr. 3, Abs. 7 S. 1, §§ 143a, 238 Abs. 2, §§ 296, 304, 306, 311, 397a Abs. 2, § 404 Abs. 5 S. 1, § 467; ZPO § 114 Abs. 1 S. 1

 

Tenor

  • I.

    Auf die Beschwerde des früheren Angeklagten wird der Beschluss der Jugendkammer des Landgerichts vom 09.03.2021 aufgehoben.

  • II.

    Dem Beschwerdeführer wird rückwirkend zum 13.10.2020 Rechtsanwalt Dr. F. als Pflichtverteidiger bestellt.

  • III.

    Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Beschwerdeführer insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

 

Gründe

I.

Mit Urteil des Amtsgerichts - Jugendschöffengericht - vom 10.08.2020 wurde der Beschwerdeführer vom Tatvorwurf des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge freigesprochen. Gegen dieses Urteil legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein. Die Akten wurden der Berufungskammer am 06.10.2020 vorgelegt. Mit Schriftsatz vom 13.10.2020 zeigte sich Rechtsanwalt Dr. F. unter Vorlage einer Vollmacht als Verteidiger an und beantragte, seinem Mandanten als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden. Die bisherige Wahlverteidigerin erklärte gleichzeitig die Mandatsniederlegung. Mit Verfügung vom 15.10.2020, beim Landgericht eingegangen am 21.10.2020, erklärte die Staatsanwaltschaft die Rücknahme der Berufung. Mit Beschluss vom 22.10.2020 hat das Landgericht der Staatskasse die Kosten der von der Staatsanwaltschaft eingelegten und zurückgenommenen Berufung und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen auferlegt.

Das Landgericht, Jugendkammer, hat mit Beschluss vom 09.03.2021, der in der Besetzung mit 3 Richtern erging, den Antrag des Angeklagten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zurückgewiesen. Wegen der Einzelheiten wird auf dem Beschluss vom 09.03.2021 Bezug genommen. Gegen den Rechtsanwalt Dr. F. am 19.03.2021 zugestellten Beschluss wendet sich der ehemalige Angeklagte mit seiner am gleichen Tag beim Landgericht eingegangenen sofortigen Beschwerde seines Verteidigers.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat am 13.04.2021 beantragt, die sofortige Beschwerde des Angeklagten kostenfällig als unbegründet zu verwerfen. Der Angeklagte hatte Gelegenheit zur Stellungnahme und äußerte sich mit Verteidigerschriftsätzen vom 22.04.2021.

II.

1. Die gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung statthafte sofortige Beschwerde (§§ 142 Abs. 7 Satz 1 StPO) ist zulässig.

a) Sie wurde form- und fristgerecht (§§ 306, 311 StPO) eingelegt. Auf Grund der Erklärung des Verteidigers vom 22.04.2021 steht zweifelsfrei fest, dass das Rechtsmittel im Namen des Beschwerdeführers und nach seinem ausdrücklichen Auftrag und nicht vom Verteidiger im eigenen Namen eingelegt wurde.

b) Dem Rechtsmittel fehlt es auch nicht an der notwendigen Beschwer. Sie ist nicht dadurch entfallen, dass das Verfahren gegen den Beschwerdeführer schon vor Entscheidung über den Beiordnungsantrag rechtskräftig abgeschlossen wurde und damit die Notwendigkeit seiner Verteidigung entfallen ist. Zwar dienen die Rechtsmittel der StPO einer gegenwärtigen, fortdauernden Beschwer. Ihr Ziel ist die Aufhebung eine...

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