Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Rücknahme der Leistungsbewilligung für die Vergangenheit. Leistungsausschluss bei Bezug einer Altersrente. Vergleichbarkeit der Altersarbeitsrente der Russischen Föderation. Erstattungsanspruch des Grundsicherungsträgers gegenüber dem Sozialhilfeträger

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine vom Rentenfonds der Russischen Föderation bewilligte Altersarbeitsrente für eine vor 1967 geborene Person weist die gleichen typischen Merkmale wie eine deutsche Altersrente auf. Ihr Bezug führt zum Leistungsausschluss nach § 7 Abs 4 S 1 SGB II. Die russische Altersarbeitsrente wird durch einen öffentlichen Träger verwaltet und gewährt, knüpft an eine Entrichtung von Beiträgen und das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze an und soll nach der Vorstellung des russischen Gesetzgebers anstelle des Arbeitslohns den Lebensunterhalt im Alter sichern.

2. Der Vergleichbarkeit mit einer deutschen Altersrente steht nicht entgegen, dass das Renteneintrittsalter in der Russischen Föderation niedriger war als in Deutschland. Es lag im Regelfall für Männer bei Vollendung des 60. Lebensjahres und für Frauen des 55. Lebensjahres. Darüber hinaus führten zahlreiche Ausnahmetatbestände - wie beispielsweise bei einer Erwerbstätigkeit in Regionen nördlich des Polarkreises - bei praktisch einem Drittel der Erwerbstätigen zu einem noch früheren Renteneintritt um bis zu 10 Jahre.

3. Die Vergleichbarkeit mit der deutschen Altersrente scheitert nicht daran, dass die russischen Rentenzahlbeträge nach deutschen Maßstäben niedrig waren und sind und dass eine Erwerbstätigkeit von Altersrentnern nicht ungewöhnlich ist. Regelmäßig ist davon auszugehen, dass auch in der Russischen Föderation das Erwerbsleben mit dem Renteneintritt beendet ist.

4. Der Rücknahme und Erstattung von SGB II-Leistungen (und Beiträgen) steht die Regelung des § 107 Abs 1 SGB X nicht entgegen, denn der erstattungsberechtigte SGB II-Leistungsträger kann gegenüber dem Träger der Sozialhilfe gemäß § 105 Abs 3 SGB X Erstattung erst ab dem Zeitpunkt verlangen, zu dem diesem bekannt ist, dass die Voraussetzungen seiner Leistungspflicht vorliegen. Die Kenntnis des SGB II-Leistungsträgers ist dem Sozialhilfeträger im Erstattungsrechtsverhältnis nicht zuzurechnen.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 08.12.2022; Aktenzeichen B 7/14 AS 10/21 R)

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Umstritten ist die Rücknahme und Erstattung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit von Januar 2005 bis Oktober 2009.

Die am ... 1947 in Minsk geborene und seit Abschluss des Studiums in der nördlich des Polarkreises am Nordpolarmeer gelegenen Hafenstadt Murmansk lebende Klägerin und Berufungsklägerin (im Weiteren: Klägerin) ist russische Staatsangehörige. Sie besitzt eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland. Nach einer Zusage des Bundesverwaltungsamts über die "Aufnahme jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion" reiste sie am 7. Mai 2004 ein. Zuvor hatte sie auf einem zweisprachigen Vordruck eine Zoll- und Devisenerklärung abgegeben, in der sie zu ihren monatlichen Einkünften in die Rubrik "Gehalt/Rente/ Sozialleistungen" einen Betrag von 2.365 Rubel eintrug. Sie besitze eine 43 m² große Wohnung, in der jetzt ihr Bruder wohne.

Von Mai bis Dezember 2004 erhielt die Klägerin vom Sozialamt der Beigeladenen Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). In den Sozialhilfeanträgen gab sie zu ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen an, 200 € Bargeld zu besitzen. Zur Frage im Antragsformular nach Renteneinkommen gab sie keine Erklärung ab. Die Beigeladene wies die Klägerin im September 2004 unter Übersendung von SGB II-Antragsformularen auf die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II im Januar 2005 hin. Sie vergab einen Termin zur Antragsabgabe im Sozialamt und benannte zwei Anlaufstellen, die beim Ausfüllen der Formulare helfen könnten.

Am 22. Oktober 2004 stellte die Klägerin einen SGB II-Leistungsantrag beim Beklagten und Berufungsbeklagten (im Weiteren: Beklagter). Das Antragsformular enthielt unter „VI. Einkommensverhältnisse …“ (Seite 3) folgenden Hinweis:

„Als Einkommen sind alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert zu berücksichtigen.

Haben Sie und/oder die mit Ihnen im Haushalt lebenden Angehörigen Einnahmen aus

Nichtselbständiger oder selbständiger Arbeit, Vermietung oder Verpachtung, Land- und Forstwirtschaft,

Kindergeld, Entgeltersatzleistungen wie Arbeitslosengeld, Übergangsgeld, Krankengeld,

Renten aus der Sozialversicherung, Betriebsrenten oder Pensionen, (…)

sonstige laufende oder einmaligen Einnahmen gleich welcher Art?“

Danach fügte die Klägerin handschriftlich „Sozialhilfe“ ein.

Der Beklagte bewilligte für die Monate Januar bis April 2005 SGB II-Leistungen für Regelbedarf und Kosten der Unterkunft und Heizung [KdUH] von...

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