Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung trotz eines noch sechsstündigen arbeitstäglichen Leistungsvermögens. Schwere spezifische Leistungsbehinderung. Wegefähigkeit. Medizinische Beweiswürdigung

 

Orientierungssatz

1. Trotz eines noch sechsstündigen arbeitstäglichen Leistungsvermögens kann der Versicherungsfall der vollen Erwerbsminderung dann gegeben sein, wenn eine schwere spezifische Leistungsbehinderung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliegt. In einem solchen Fall ist der Rentenversicherungsträger verpflichtet, einen konkreten Arbeitsplatz zu benennen.

2. Der Arbeitsmarkt ist verschlossen, wenn dem Versicherten die Wegefähigkeit fehlt. Ein sog. Katalogfall liegt dann nicht vor, wenn der Versicherte täglich viermal Wegstrecken von knapp mehr als 500 meter mit einem zumutbaren Zeitaufwand von bis zu 20 Minuten zu Fuß zurücklegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten benutzen kann. Dies gilt auch dann, wenn er dabei auf Mobilitätshilfen angewiesen ist.

 

Normenkette

SGB VI § 43

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 24.04.2015; Aktenzeichen B 13 R 37/15 B)

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI) streitig.

Die am ... 1962 geborene Klägerin durchlief zunächst von September 1979 bis Juli 1981 eine Ausbildung zum Maschinist für Pump- und Verdichteranlagen und war in der Folgezeit als Anlagenfahrer, Krippenhelfer, Küchenhilfe, Lagerhalter, Fachwerker und Bauhelfer beschäftigt. Von Januar bis Juli 1998 durchlief sie zudem erfolgreich eine Ausbildung zur technisch-kaufmännischen Fachkraft für Tankstellen. Seit Januar 2000 ist sie arbeitssuchend. Seit 2005 bezieht sie Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.

Bei der Klägerin ist seit dem 15. Dezember 2003 ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 und seit dem 18. April 2011 ein GdB von 50 (Bescheid vom 28. Juli 2011) anerkannt.

Am 1. Oktober 2009 beantragte die Klägerin zum zweiten Mal die Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung. Wegen eines im Mai 2003 erlittenen Herzinfarktes, Diabetes, eines Bluthochdrucks, eines Halswirbelsäulensyndrom, Schmerzen in der Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung ins linke Bein, Wasseransammlungen in den Beinen, Muskelkrämpfen, einer Schilddrüsenunterfunktion, erhöhten Augeninnendrucks, Schlafstörungen und Schweißausbrüchen könne sie leichte Bürohilfstätigkeiten nur noch drei Stunden täglich verrichten. Die Beklagte holte einen Behandlungs- und Befundbericht von der Fachärztin für Allgemeinmedizin - Naturheilverfahren - Dr. S. vom 10. Oktober 2009 ein und veranlasste sodann die Begutachtung der Klägerin durch die Fachärztin für Innere Medizin/Diagnostische Radiologie Dr. H. Die Gutachterin kam in ihrem Gutachten vom 6. Januar 2010 nach einer ambulanten Untersuchung der Klägerin am 4. Januar 2010 zu dem Ergebnis, die Klägerin könne leichte bis mittelschwere Arbeiten zeitweise im Gehen, Stehen und Sitzen in Früh- und Spätschicht sechs Stunden und mehr täglich verrichten. Als Diagnosen seien Adipositas per magna (BMI 45) mit inkomplettem Stoffwechselsyndrom, Diabetes mellitus Typ II, sekundär insulinisiert, Hyperlipidämie mit erheblicher Steatosis hepatis (Fettleber), Zustand nach koronarer Bypass-Operation Juli 2003 ohne Angina pectoris bei Zustand nach Vorderwand-Myokardinfarkt Mai 2003 und gesicherter koronarer Ein-Gefäßerkrankung auf der Basis eines Nikotinabusus bis 2003, essentielle Hypertonie ohne kardiale Dekompensation und muskuläre Dysbalance bei statischer Fehlbelastung und Immobilität mit myofascialen Schmerzen zu berücksichtigen.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 14. Januar 2010 den Antrag der Klägerin auf Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab. Trotz eines bestehenden Übergewichts, einer insulinpflichtigen Zuckerkrankheit, einer koronaren Herzkrankheit, Rückenschmerzen und Hüftgelenkbeschwerden könne die Klägerin noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein. Hiergegen legte die Klägerin am 28. Januar 2010 Widerspruch ein. Das Gutachten von Dr. H. enthalte Unrichtigkeiten zu den persönlichen Verhältnissen und seit tendenziös, da auf Seite 13 angeführt werde, dass ihr Ehemann seine "EU-Rente" eingeklagt habe, weshalb das Gutachten dem Verwertungsverbot unterliege. Sie leide unter einer Schilddrüsenunterfunktion, Wasseransammlungen in den Beinen, Schmerzen in der Lendenwirbelsäule, der linken Hüfte, unter Schlafstörungen, unter starkem Übergewicht und starkem Schwitzen. Eine auf Kosten der Beklagten durchgeführte Eingliederungsmaßnahme als Bürohilfe sei erfolglos geblieben. Zudem trug die Klägerin im April 2010 vor, unter einer chronischen Urozystitis (Blasenentzündung) und Belastungsinkontinenz zu leiden; sie übersan...

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