Entscheidungsstichwort (Thema)

Bestellung eines Prozesspflegers bei fehlender Prozessfähigkeit des Beteiligten. Ernsthafte Zweifel an der Prozessfähigkeit. Querulatorisches Verhalten. Persönlichkeitsstörung. Wahn. Selbstbestimmungsrecht. Prozesskostenhilfe. Vordruck

 

Leitsatz (amtlich)

Die Prozessfähigkeit eines Beteiligten ist von Amts wegen zu prüfen. Kann ein Sachverständigengutachten die Prozessunfähigkeit eines Beteiligten nicht feststellen, so ist nur bei verbleibenden deutlichen Hinweisen auf eine Prozessunfähigkeit die vorübergehende Beiordnung eines besonderen Vertreters möglich. Liegen diese hinreichenden Anhaltspunkte nicht vor und verbleiben lediglich Restzweifel an der Prozessfähigkeit, kommt es zu keiner Beweislastumkehr, d.h., den Betroffenen trifft nicht das Risiko der Nichterweislichkeit seiner Prozessfähigkeit.

 

Orientierungssatz

1. Ein Prozesspfleger ist dann zu bestellen, wenn der Beteiligte nicht prozessfähig ist. Prozessunfähig ist, wer geschäftsunfähig ist. Dies setzt voraus, dass sich der Betreffende in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden, dauerhaften Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet. Für die Prozessfähigkeit einer erwachsenen Person spricht eine tatsächliche Vermutung.

2. Für das Gericht gilt zur Beurteilung der Prozessfähigkeit des Beteiligten der Grundsatz des Freibeweises. Dabei kommt es entscheidend darauf an, ob der Betreffende in der Lage ist, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen.

3. Nur ernsthafte Zweifel an der Prozessfähigkeit oder hinreichend deutliche Anzeichen für die Annahme einer Prozessunfähigkeit begründen die Annahme von Prozessunfähigkeit. Unstreitig bestehende Querulanz, die sich in einer Vielzahl betriebener Gerichtsverfahren äußert, reicht für die Annahme einer bestehenden Prozessunfähigkeit nicht aus. Hinzukommen müssen Anzeichen für einen Querulantenwahn.

3. Sind hinreichend deutliche Anhaltspunkte für eine Prozessunfähigkeit nicht ersichtlich, so ist von der tatsächlichen Vermutung auszugehen, dass der Antragsteller prozessfähig ist.

 

Normenkette

SGG § 72 Abs. 1, § 73a Abs. 1 S. 1; ZPO §§ 52, 117 Abs. 2-4; BGB § 104 Nr. 2

 

Tenor

Der Beschluss des Sozialgerichts vom 17. Mai 2010 wird aufgehoben.

Die Kostenentscheidung bleibt einer Schlussentscheidung vorbehalten.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zur Durchführung des Beschwerdeverfahrens wird abgelehnt.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Entscheidung des Sozialgerichts, ihm für ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes einen Prozesspfleger zu bestellen. In der Sache begehrt er Förderungen nach dem Dritten Buch des Sozialgesetzbuches - Arbeitsförderung (SGB III) und des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX).

Der Antragsgegner gewährt ihm seit Januar 2005 laufend Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II).

Bereits im Frühjahr 2008 hatte der 2. Senat des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt eine Begutachtung des Antragstellers in fünf Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes durch einen Sachverständigen wegen Zweifeln an dessen Prozessfähigkeit angeordnet. Nach dem Erlass der Beweisanordnung hatte der Antragsteller vier der fünf Rechtsschutzgesuche zurückgenommen. Eine Untersuchung durch den bestellten Gutachter, Dr. G, hatte nicht stattgefunden, da der Antragsteller zu den anberaumten Untersuchungsterminen nicht erschienen war. Hinsichtlich des Inhaltes des am 3. März 2008 nach Aktenlage erstellten Gutachtens wird auf Bl. 129 ff der Gerichtsakte L 2 B 74/07 AS ER verwiesen. Das Landessozialgericht hatte im Beschluss vom 29. April 2008 gestützt darauf die Prozessfähigkeit des Antragstellers angenommen. Hinsichtlich der Begründung wird auf den Inhalt des den Beteiligten bekannten Beschlusses Bezug genommen.

Das Sozialgericht hat wegen seiner Zweifel an der Prozessfähigkeit des Antragstellers im März 2009 versucht, diesen einer entsprechenden Begutachtung zuzuführen. Es hat sich nach eigenen Ausführungen durch eine ergänzende medizinische sachverständige Meinung erhofft, im vorliegenden Fall eine breitere Grundlage für die Entscheidung zu gewinnen, ob unzweifelhaft Prozessfähigkeit beim Antragsteller vorliege oder ob Zweifel blieben und ein besonderer Vertreter bestellt werden müsse. Ausweislich des Anschreibens des Sozialgerichts an den Gutachter, habe der erste Eindruck, den es vom Antragsteller im Termin gewinnen konnte, die außergewöhnlichen Verhaltensweisen des Antragstellers in den Prozessen nicht vermuten lassen.

Ferner hat das Sozialgericht beim Amtsgericht M. eine Betreuung angeregt. Da sich der Antragsteller jedoch im Rahmen eines Betreuungsverfahrens nicht untersuchen lassen wollte, hat dieses Verfahren zu keinem Ergebnis geführt.

Der Antragsteller hat keinen der vom Sozialgericht bestellten Sachverständigen anberaumten Untersuchungstermine wahrgenommen. Da die Frage nach der Prozess...

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