Entscheidungsstichwort (Thema)

Berücksichtigung einer Beschäftigung gegen frein Unterhalt im Ghetto Chrzanow als Beitragszeit

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Anerkennung einer sog. Ghetto-Beitragszeit setzt voraus, dass eine dortige entgeltliche Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss ausgeübt worden ist.

2. Der Annahme eines eigenen Willenentschlusses steht ein Alter von nur elf Jahren bei der Arbeitsaufnahme nicht entgegen.

3. Im Einzelfall kann von einer entgeltlichen Beschäftigung ausgegangen werden, wenn die gute Möglichkeit bestand, dass ein Dritter von dem gewährten Unterhalt über einen erheblichen Zeitraum zumindest entscheidend mitversorgt worden ist.

4. Eine Gewährung von Lebensmittelcoupons überschreitet den versicherungsfreien Unterhalt nur dann, wenn die auf den Coupons bezeichneten Lebensmittel das Maß des persönlichen Bedarfs überstiegen und somit als zur freien Verfügung gewährt angesehen werden können.

 

Orientierungssatz

1. Die Anerkennung einer sog. Ghetto-Beitragszeit setzt voraus, dass eine dortige entgeltliche Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss ausgeübt worden ist.

2. Der Annahme eines eigenen Willenentschlusses steht ein Alter von nur elf Jahren bei der Arbeitsaufnahme nicht entgegen.

3. Im Einzelfall kann von einer entgeltlichen Beschäftigung ausgegangen werden, wenn die gute Möglichkeit bestand, dass ein Dritter von dem gewährten Unterhalt über einen erheblichen Zeitraum zumindest entscheidend mitversorgt worden ist.

4. Eine Gewährung von Lebensmittelcoupons überschreitet den versicherungsfreien Unterhalt nur dann, wenn die auf den Coupons bezeichneten Lebensmittel das Maß des persönlichen Bedarfs überstiegen und somit als zur freien Verfügung gewährt angesehen werden können.

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19.11.2004 geändert und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Altersrente unter Berücksichtigung von Ghettobeitragszeiten. Umstritten ist die Zeit vom 1.1.1940 bis zum 31.8.1942, in der sich die Klägerin in Chrzanow (Krenau) aufhielt.

Die am 00.00.1929 in Auschwitz geborene Klägerin ist jüdischen Glaubens, lebt seit April 1946 in Israel und besitzt die israelische Staatsangehörigkeit. Sie ist als Verfolgte des Nationalsozialismus iS des § 1 Abs. 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt und erhielt für Schaden an Freiheit eine Entschädigung für den Zeitraum vom 18.1.1940 bis zum 15.4.1945 (Feststellungsbescheid C vom 19.10.1959). In der israelischen Sozialversicherung legte sie zwei Beitragsmonate zurück.

Die Klägerin wurde im Januar 1940 mit ihrer Mutter und ihrer Schwester T aus Auschwitz ausgesiedelt und kam zwangsweise nach Chrzanow. Ihr Vater war bereits in Auschwitz inhaftiert worden. Während ihres Aufenthaltes in Chrzanow arbeitete sie jedenfalls in den Jahren 1941 und 1942 in der Fabrik Trzebinia, die Gummimäntel für die Wehrmacht herstellte. Die Klägerin klebte dort Gummiteile zusammen. Im Verfahren auf Anerkennung eines Schadens an Körper oder Gesundheit (§§ 28 bis 42 BEG) erklärte sie hierzu am 25.8.1966: "Schon vorher habe ich in Trzebinia schwer arbeiten müssen, bei schlechter Ernährung 12-14 Stunden täglich - ich arbeitete dort in der Nachtschicht." In der Anamnese des im Entschädigungsverfahren eingeholten medizinischen Sachverständigengutachtens von Dr. I heißt es, die Klägerin habe in Chrzanow "schwere, ihre kindlichen Kräfte übersteigende Arbeit verrichten" müssen. Sie selbst bezeichnete in der Anamnese die Tätigkeit in Chrzanow als "Zwangsarbeit". Im August 1942 wurde sie von ihrer Familie getrennt und in das Zwangsarbeiterlager Neusalz deportiert.

Am 28.6.2000 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Altersrente und in diesem Rahmen die Anerkennung der in Chrzanow zurückgelegten Zeiten. Sie gab an, sie habe im Shop "Trzebinia" von Januar 1940 bis 1942 an acht bis zehn Stunden pro Tag gearbeitet. Als Entgelt seien Coupons verteilt worden, wofür man habe Lebensmittel kaufen können. Die Beklagte zog die Entschädigungsakte der Klägerin bei und holte eine eidesstattliche Erklärung der Klägerin ein, die am 28.1.2001 angab: Sie habe die Arbeit in Trzebinia auf Empfehlung des Judenrates erhalten. Sie sei zu Fuß von und zu der Fabrik gegangen und auf dem Arbeitsweg nicht bewacht worden. Weiter brachte sie eine Erklärung der am 30.1.1929 geborenen Zeugin T vom 13.11.2000 bei, die angab: Sie habe die Klägerin in Chrzanow kennen gelernt, als deren Familie im Jahre 1940 von Auschwitz nach Chrzanow ausgesiedelt worden sei. Sie selbst habe von Januar 1940 bis Juni 1942 in Chrzanow gelebt. Sie habe in der C-str., die Klägerin in der H Str. gewohnt. Sie habe die Klägerin täglich gesehen, da sie in derselben Abteilung in der Gummifabrik gearbeitet habe, die sich in Trzebinia befunden habe, ungefähr 3 km von Krenau entfernt. Sie und die Klägerin seien zu Fuß dorthin gegangen. Die Tätigkeit ...

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