Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Rentenversicherung: Rente wegen Erwerbsminderung. Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen. Hirnleistungsschwäche als ungewöhnliche Leistungseinschränkung

 

Orientierungssatz

Kommt zu bestehenden Gesundheitsbeeinträchtigungen, welche zu einer Leistungsminderung in Bezug auf die ausübbaren Arbeitstätigkeiten führen, eine Hirnleistungsschwäche hinzu, aus der eine Beschränkung der Leistungsfähigkeit auf geistig sehr einfache Tätigkeiten folgt, so ist auch bei einer verbleibenden Arbeitsfähigkeit von grundsätzlich sechs Stunden am Tag davon auszugehen, dass eine vollständige Erwerbsminderung vorliegt, da sich aus der Hirnleistungsschwäche eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen ergibt.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 27.10.2009 geändert. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 28.8.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.6.2007 verurteilt, der Klägerin ab 1.3.2012 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin ¾ der außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist Rente wegen Erwerbsminderung.

Die 1954 geborene Klägerin erlernte von 1969 bis 1971 den Beruf der Herrennäherin. Sie war zuletzt von 1990 bis zum 30.6.1998 im Unternehmen ihres Ehemanns, der Firma S GmbH, als Büro- und Lagerhelferin sozialversicherungspflichtig beschäftigt. In der Folgezeit bis einschließlich Januar 2010 war die Klägerin durchgehend (mit und ohne Leistungsbezug) arbeitslos gemeldet. Seit April 2012 ist sie als Schwerbehinderte anerkannt.

Im Juni 2006 beantragte die Klägerin wegen "orthopädische Erkrankungen, Schilddrüsenerkrankung" Rente wegen Erwerbsminderung. Der von der Beklagten eingeschaltete Arzt für Orthopädie und Chirurgie Dr. L1 hielt die Klägerin noch für in der Lage, leichte Arbeiten zeitweise im Stehen, Gehen und Sitzen ohne Heben und Tragen von Lasten über 10 kg und ohne Zwangshaltungen sechs Stunden und mehr arbeitstäglich zu verrichten (Gutachten vom 9.8.2006). Auf dieser Grundlage lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab (Bescheid vom 28.8.2006; Widerspruchsbescheid vom 22.6.2007).

Mit ihrer am 3.7.2006 erhobenen Klage weist die Klägerin darauf hin, dass ihr behandelnder Orthopäde L wegen erheblicher Schmerzzustände nur von einer Restleistungsfähigkeit von unter drei Stunden arbeitstäglich ausgehe. Da konventionelle Behandlung nicht genüge, sei eine periradikuläre (Schmerz-)Therapie durchgeführt worden. Wegen der Hüftschmerzen sei ihr der Einsatz einer Totalendoprothese (TEP) angeraten worden.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.8.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.6.2007 zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Leistungsfalls vom 9.6.2006 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat ihre Entscheidung weiter für richtig gehalten.

Die vom Sozialgericht (SG) Aachen beauftragte Sachverständige Fachärztin für Orthopädie und Rheumatologie sowie Ärztin für spezielle Schmerztherapie Dr. Q hat ein leichtes myotendinöses HWS-Syndrom, ein fortgeschrittenes degeneratives Lumbalsyndrom mit Osteochondrose L3/4, Facettengelenksarthrose L3 bis S 1 sowie Protrusion L5/S 1, Prolaps L4/5 rechts bei ischialgieformer Ausstrahlung links ohne sensible oder motorische Ausfälle, eine beginnende Hüftgelenksarthrose links, eine beginnende Kniegelenksarthrose mit Reizsymptomatik und Erguss, Zustand nach Meniskusoperation links, eine Teilsteife des Großzehengrundgelenks links, eine leichte Beugefehlstellung beider kleinen Finger, ein chronifiziertes Schmerzsyndrom mit depressiver Grundhaltung und eine therapiepflichtige Schilddrüsenerkrankung diagnostiziert. Unter Berücksichtigung der Auswirkungen dieser Krankheiten könne die Klägerin noch sechs Stunden und mehr täglich leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung mit weiteren qualitativen Leistungseinschränkungen verrichten. Die Gehfähigkeit sei zwar durch die aktuelle Reizung des linken Kniegelenkes sowie eine ischialgieforme Reizung des linken Beines eingeschränkt. Das demonstrierte schwerfällige Gangbild mit zwei Unterarmgehstützen sei jedoch in diesem Umfang nicht erklärbar (1. Gutachten vom 20.7.2008). Aufgrund erneuter Untersuchung der Klägerin im Juni 2009 hat die Sachverständige ergänzt: Nach Einsatz einer Totalendoprothese im linken Hüftgelenks im Juli 2008 sei die Anschlussheilbehandlung mit gutem Ergebnis abgeschlossen worden. Die Klägerin sei in ihrer Beweglichkeit stark eingeschränkt, indes weiter wegefähig und in der Lage, leichte Tätigkeiten mit weiteren qualitativen Leistungseinschränkungen für mindestens sechs Stunden arbeitstäglich zu verrichten. Die artikulierten und dem...

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