Entscheidungsstichwort (Thema)

Pflegeversicherung. Pflegestufe I. Hilfebedarf. Diabetiker. Verfassungsmäßigkeit. Verrichtungskatalog

 

Leitsatz (amtlich)

Bei einem 16 Jahre alten, an Diabetes mellitus Typ 1 (juvenile Form) erkrankten Kind, das Hilfebedarf täglich bei der Blutzuckertestung und Injektion von Insulin sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (Zubereitung der Nahrung nach diätischen Richtlinien) hat, besteht kein Hilfebedarf im Umfang der Pflegestufe I iS des § 15 Abs 1 Ziff 1 und Abs 3 Ziff 1 SGB 11.

 

Orientierungssatz

Die Entscheidung des Gesetzgebers, ob er ein bestimmtes Risiko in vollem Umfang oder nur zu einem Teil abdecken will, unterliegt seinem Ermessen. Allerdings ist der Gesetzgeber vor dem Maßstab des Art 3 Abs 1 GG gehalten, die Abgrenzung des Versicherungsumfangs nicht willkürlich, sondern nach sachgerechten Gesichtspunkten vorzunehmen. Ob dies in § 14 Abs 4 SGB 11 in jeder Beziehung gelungen und ob der hier genannte Katalog abschließend ist, kann dahingestellt bleiben.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um Leistungen der Pflegeversicherung nach den §§ 36 ff des Sozialgesetzbuchs, Elftes Buch (SGB XI), Soziale Pflegeversicherung, vom 26. Mai 1994 - BGBl I S. 1014 -.

Der am. August 19. geborene Kläger beantragte am 31. Januar 1995 Leistungen der Pflegeversicherung. Die Beklagte veranlaßte die Erstattung eines Gutachtens durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Niedersachsen. In ihrem Gutachten vom 19. April 1995 bezeichnete Frau Dr. K. als pflegebegründende Diagnose einen Diabetes mellitus, juvenile Form mit Ketoazidose. Sie führte aus, daß der Kläger im Bereich der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität) keinen Hilfebedarf habe, sondern lediglich im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung beim Einkaufen einmal, beim Kochen siebenmal, beim Reinigen der Wohnung einmal, beim Spülen siebenmal und beim Wechseln bzw Waschen der Wäsche bzw Kleidung dreimal wöchentlich. Es handele sich beim Kläger um einen sehr aufgeweckten 11-jährigen Jungen, der gut über seine Krankheit Bescheid wisse und Blutzuckertestungen selbständig vornehme. Die Überwachung der Blutzuckertestung erfolge durch die Mutter drei- bis fünfmal, ebenso die Überwachung der Injektion von Insulin von zur Zeit einmal morgens, einmal abends. Eine Zubereitung der Ernährung nach diätetischen Richtlinien sei unbedingt erforderlich. Es sei dabei ein Aufwand von unter einer Stunde täglich notwendig. Damit liege Pflegebedürftigkeit nicht vor.

Gestützt auf dieses Gutachten lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 11. Mai 1995 ab. Im anschließenden Widerspruchsverfahren machte der Kläger mit Schriftsatz vom 22. Mai 1995 geltend, der tatsächlich erhöhte Zeitaufwand für Pflege aufgrund seiner Erkrankung betrage mindestens zwei Stunden täglich. Er setze sich wie folgt zusammen:

Uhrzeit

Tätigkeit

Zeitaufwand

06.00

Blutzuckermessen, Insulinbedarf

festsetzen, Spritze aufziehen und

spritzen

ca. 10 Min.

06.30

Frühstücken; abwiegen der

Nahrungsmittel nach Diätplan (BE),

abwiegen und herrichten der 2

Zwischenmahlzeiten für die Schule

ca. 10 Min.

13.00

Blutzuckermessen, ggf. Insulin

festsetzen, Spritze aufziehen und

spritzen, Abwiegen des Mittagessens

nach Diätplan (BE)

ca. 10 Min.

16.00

Zwischenmahlzeit, abwiegen und

herrichten nach Diätplan (BE)

ca. 5 Min.

18.00

Blutzuckermessen, Insulinbedarf

festsetzen, Spritze aufziehen und

spritzen

ca. 10 Min.

18.30

Abendessen, Abwiegen und herrichten

nach Diätplan (BE)

ca. 10 Min.

21.00

Spätmahlzeit, abwiegen und

herrichten nach Diätplan (BE)

ca. 5 Min.

Außerdem seien nach jedem Spritzen die Spritzeinstiche zu überprüfen und nötigenfalls zu behandeln, zum Verhüten von Durchblutungsstörungen müßten regelmäßig die Füße eingecremt werden, es seien Urintests - Ketontests - durchzuführen, fast täglich seien Nadelwechsel bei PEN und AUTOCLUX vorzunehmen, schließlich müsse nach jedem Blutzuckertest das Diabetikertagebuch geführt werden; dies ergebe insgesamt einen weiteren Pflegeaufwand von 15 Minuten. Hinzu komme ein Mehraufwand an Zeit beim Herrichten der Mahlzeiten für die Familie. Aufgrund der Erkrankung sei die Mutter gezwungen, Mahlzeiten nach einem Diätplan zu kochen. Es müßten auch mehr Mahlzeiten als in einer gesunden Familie zubereitet werden. Der Mehraufwand an Zeit gegenüber einer Familie mit gesundem Kind sei, niedrig bemessen, in diesem Bereich auf mindestens 45 Minuten täglich zu beziffern, so daß insgesamt der Mehraufwand gegenüber einem gesunden Kind mindestens 2 Stunden täglich betrage.

In einem weiteren Gutachten des MDK Niedersachsen vom 29. Juni 1995 führte die Gutachterin Dr. R. aus, die im Widerspruch angegebenen pflegeunterstützenden Maßnahmen im Rahmen des Diabetes stellten für sich allein gesehen keine Verrichtungen des täglichen Lebens dar und könnten daher in bezug auf eine Pflegestufe nicht berücksichtigt werden. Insofern verbleibe es bei der Beurteilung durch Frau Dr. K.. Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch d...

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