Entscheidungsstichwort (Thema)

neue Berufskrankheit. Ermächtigungsgrundlage. Verletzung. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. bandscheibenbedingte Erkrankung der Wirbelsäule. neue Erkenntnisse. medizinische Wissenschaft

 

Leitsatz (amtlich)

Der Senat hält daran fest, daß die mit der Zweiten Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) vom 18.12.1992 (BGBl I S 2343) erfolgte Aufnahme "bandscheibenbedingter Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung" in die Liste der Berufskrankheiten - als Nummer 2108 der Anlage zur BKV - sich nicht im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage des § 551 Abs 1 S 3 RVO hält und deshalb unwirksam ist. Auch unter Berücksichtigung neuer Veröffentlichungen gibt es keine hinreichend gefestigte Auffassung der medizinischen Wissenschaft, daß für Angehörige von Berufsgruppen, die diese Tätigkeiten verrichten, das Risiko bandscheibenbedingter Erkrankungen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung erheblich erhöht ist.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 19.08.1999; Aktenzeichen B 2 U 57/99 B)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Zahlung von Verletztenrente. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob er an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule (LWS) durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (Berufskrankheit -- BK -- Nr. 2108 der Anl. zur Berufskrankheiten-Verordnung -- BKV) leidet.

Der 1937 geborene Kläger verrichtete als Kernmacher von 1952 bis 1993 schwere Hebe- und Tragetätigkeiten bei Seitneigung und Verdrehung des Rumpfes sowie Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (Bericht des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten vom 5. September 1995). Seit dem Ende des 5. Lebensjahrzehntes leidet er unter Rückenschmerzen, die zu Beginn des Jahres 1993 in das rechte Bein ausstrahlten. Nach einer im April 1993 erfolgten Bandscheibenoperation L4/5 meldete die AOK einen Ersatzanspruch bei der Beklagten an. Daraufhin zog die Beklagte medizinische Unterlagen sowie Röntgenaufnahmen bei und legte diese nach Ermittlung der beruflichen Belastung des Klägers ihrem beratenden Arzt Dr. D vor. Dr. D hielt eine Wirbelsäulenerkrankung i.S. der BK Nr. 2108 für wahrscheinlich und empfahl zur Klärung der durch sie bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) eine gutachtliche Untersuchung des Klägers, die Prof. Dr. H vornahm. Prof. Dr. H beschrieb in seinem Gutachten vom 2. Mai 1994 eine röntgenologisch sichtbare Einengung der Zwischenwirbelräume L4/5 und L5/S1, ventrale Randkantenausziehungen an den Grund- und Deckplatten L3 bis L5 sowie den Deckplatten S1 und gering L2, außerdem eine ausgeprägte Sklerosierung und Verkalkung im Bereich der Bögen und Dornfortsätze der Wirbelkörper L3 bis L5. Klinisch bestanden eine Bewegungseinschränkung der gesamten Wirbelsäule, in besonderem Maße der unteren LWS, Zeichen einer Ischialgie und einer Peronaeusparese rechts. Nach Ausschluß einer eigenständigen entzündlichen Erkrankung (vgl. das röntgenologische Zusatzgutachten des Prof. Dr. S und des Dr. L vom 27. April 1995) hielt Prof. Dr. H die Anforderungen an eine BK Nr. 2108 für erfüllt: Es bestehe ein mehrsegmentales Bandscheibenleiden der unteren LWS im beruflich besonders belasteten Abschnitt. Klinischer und röntgenologischer Befund sowie die Schmerzlokalisation stimmten überein. Relevante konkurrierende Ursachen seien nicht nachweisbar. Die MdE schätzte der Gutachter auf 20 vom Hundert (v.H.). Demgegenüber hielt die beratende Ärztin der Beklagten, Dr. H, das Gutachten des Prof. Dr. H zur Beurteilung der Voraussetzungen der BK Nr. 2108 für nicht ausreichend. Erforderlich sei noch die Anfertigung von Röntgenaufnahmen der Hals- und Brustwirbelsäule (HWS/BWS). Nachdem die Beklagte diese Röntgenaufnahmen beigezogen hatte, gelangte Frau Dr. H in ihrer abschließenden Stellungnahme vom 23. April 1996 zu dem Ergebnis, daß sich medizinisch die BK Nr. 2108 nicht begründen lasse. Denn neben höhergradigen Bandscheibendegenerationszeichen in den Segmenten L4/L5 und L5/S1 lägen an der gesamten Wirbelsäule mehrsegmentale Bandscheibenschäden vor. Im Bereich der HWS seien alle Bandscheiben vom Degenerationsprozeß erfaßt. In einem solchen Fall müsse eine anlagebedingte Komponente der bandscheibenbedingten Erkrankung angenommen werden. Bei gleichartigen Veränderungen an zwei oder sogar an allen Wirbelsäulenabschnitten sei eine BK nicht wahrscheinlich. Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11. Juni 1996 Entschädigungsleistungen ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 25. Juli 1996).

Dagegen richtet sich die rechtzeitig vor dem Sozialgericht (SG) Osnabrück erhobene Klage. Nach Beiziehung medizinischer Unterlagen hat das SG das orthopädische Gutachten des Dr. L vom 24. September 1997 eingeholt, das die Wertung der Frau Dr. H bestätigte: Die generellen, annähernd gleichmäßigen Verschle...

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