Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. Altfall. Übergangsvorschrift. Anhängigkeit einer Beschwerde vor dem EGMR. Unzulässigkeit der Beschwerde. formale Erhebung einer inhaltlich bereits geprüften Beschwerde. Rechtsmissbrauch. Erforderlichkeit einer Verzögerungsrüge. Ausnahme nach Art 23 S 5 und S 6 ÜberlVfRSchG. analoge Anwendung bei zeitnaher Verfahrensbeendigung

 

Orientierungssatz

1. Die bloße (formale) Erhebung einer Beschwerde bei dem EGMR reicht nicht aus, um nach §§ 198, 199 GVG in Verbindung mit Art 23 ÜberlVfRSchG einen Entschädigungsanspruch für die lange Dauer abgeschlossener Verfahren zu begründen (vgl BGH vom 11.7.2013 - III ZR 361/12 = NJW 2014, 218).

2. Der Senat hat keine Bedenken, Art 35 Abs 2 MRK (wonach eine Individualbeschwerde vor dem EGMR unzulässig ist, wenn sie im Wesentlichen mit einer schon vorher vom Gerichtshof geprüften Beschwerde übereinstimmt), selbst anzuwenden.

3. Die Ausnahmeregelungen in Art 23 S 5 und S 6 ÜberlVfRSchG, wonach eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruches nach § 198 GVG sofort und ohne vorherige Verzögerungsrüge erhoben werden können, greifen nicht, wenn das Verfahren bei Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG noch nicht abgeschlossen war.

4. Zwar ist in den Altfällen, die kurz nach dem Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG beendet worden sind und in denen die Verfahrensbeteiligten aufgrund der schnellen Beendigung des Verfahrens zu wenig Zeit für die Erhebung einer Verzögerungsrüge hatten, an eine analoge Anwendung von Art 23 S 5 und S 6 ÜberlVfRSchG zu denken. Eine solche Analogie kommt aber jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn der Entschädigungskläger im konkreten Einzelfall bereits Kenntnis von der Obliegenheit der Erhebung einer Verzögerungsrüge hatte und im Hinblick auf den baldigen Abschluss des Verfahrens tatsächlich nicht um eine Verfahrensverzögerung besorgt war.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 18.06.2014; Aktenzeichen B 10 ÜG 1/14 B)

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert des Verfahrens wird auf 15.000 EUR festgesetzt.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von dem Beklagten Entschädigung wegen unangemessener Dauer der vor dem Sozialgericht (SG) Hannover bzw. Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen geführten Gerichtsverfahren S 35 KA 322/01 = L 3 KA 156/04 sowie L 3 KA 55/10 WA. Insoweit macht der Kläger immateriellen Schadensersatz in Höhe von 5.000,00 EUR nebst einem unbezifferten materiellen Schadensersatz geltend.

Der Kläger nahm 1999 als Zahnarzt mit Sitz in H. an der vertragszahnärztlichen Versorgung in Niedersachsen teil. Für 1999 rechnete er vertragszahnärztliche Leistungen i.H.v. 721.628,35 DM ab. Mit Bescheid vom 5. April 2000 setzte die Kassenzahnärztliche Vereinigung Niedersachsen (KZVN) das vertragszahnärztliche Honorar des Klägers im Kalenderjahr 1999 stattdessen mit 515.581,04 DM fest. Hiergegen erhob der Kläger erfolglos Widerspruch und am 17. April 2001 Klage vor dem SG. Mit Urteil vom 30. Juni 2004 änderte das SG den Bescheid der KZVN ab und verurteilte diese, den Honoraranspruch des Klägers unter Beachtung der Rechtsprechung des BSG zur Berücksichtigung der Degressionsabzüge im Rahmen der Honorarverteilung neu zu bescheiden; im Übrigen wies das SG die Klage ab. Die gegen diese Entscheidung vom Kläger beim LSG eingelegte Berufung wies das LSG mit Urteil vom 9. April 2008 zurück. Zugleich wies es eine Klage gegen einen weiteren Bescheid der KZVN vom 6. April 2006 ab. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG wies das Bundessozialgericht mit Beschluss vom 17. Juni 2009 (B 6 KA 43/08 B) zurück.

Gegen die Entscheidung des LSG vom 9. April 2008 erhob der Kläger am 25. Mai 2010 Nichtigkeitsklage. Das LSG wies diese mit Beschluss vom 16. Dezember 2011 ab (L 3 KA 55/10 WA). Hiergegen legte der Kläger kein Rechtsmittel ein.

Zwischen dem 10. Juni 2007 und 26. August 2008 hat der Kläger in dieser Sache (Individualbeschwerde-Nr. 52719/08) sowie in zehn weiteren Verfahren Individualbeschwerden zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erhoben und gerügt, dass die Verfahrensdauern der sozialgerichtlichen Verfahren mit dem Gebot der "angemessenen Frist" nach Art 6 Abs. 1 EMRK unvereinbar gewesen seien. Mit Urteil vom 16. Dezember 2010 hat der EGMR in den zusammengefassten Individualbeschwerdeverfahren des Klägers Nrn. 39778/07, 11171/08, 43336/08, 52719/08, 15895/09, 16123/09, 16127/09, 16129/09, 27529/09, 27533/09 und 27596/09 die beklagte Bundesrepublik Deutschland verurteilt, an den Kläger einmalig 30.000 EUR immateriellen Schadensersatz zu zahlen. Der EGMR hat die Auffassung vertreten, dass die jeweilige Dauer der gerügten Verfahren überlang gewesen sei und dem Erfordernis der "angemessenen Frist" nicht entsprochen habe. Folglich sei Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden. Darüber hinaus hat der EGMR die von dem Kläger geltend gemachte Forderung bezüglich des materiellen Schadens in ...

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