Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewilligung von Sozialhilfe für einen Ausländer durch einstweiligen Rechtsschutz

 

Orientierungssatz

1. Ein Rechtsanspruch auf Gewährung von Sozialhilfe entfällt für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Auch bei einem Unionsbürger ist ein Mitgliedsstaat nicht verpflichtet, diesem und seinen Familienangehörigen während der Zeit der Arbeitssuche Sozialhilfe zu gewähren.

2. Ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die entscheidende Frage, ob der Antragsteller i. S. von § 23 Abs. 3 S. 1 1. Alternative in das Bundesgebiet eingereist ist, um Sozialhilfe zu erlangen, nicht zu klären, so hat das Gericht anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese Vorschrift verlangt einen finalen Zusammenhang zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe.

3. Der ernsthafte Wille eines einreisenden Ausländers, mit seinen in Deutschland lebenden Kindern zusammenzuleben, kann ein den Sozialhilfebezug überlagerndes gewichtiges anderes Einreisemotiv sein. Demgegenüber trägt der Grundsicherungsträger die materielle Beweislast dafür, dass die Einreise in erster Linie erfolgt ist, um Sozialhilfe zu erlangen.

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 10. September 2008 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten um die vorläufige Gewährung von Sozialhilfe.

Der 1956 geborene Antragsteller ist polnischer Staatsangehöriger. Er reiste am 4. Juli 2008 nach Deutschland zu seiner Tochter, die hier mit deutschem Ehemann und Tochter im Gebiet des Antragsgegners lebt, ein. Die Tochter und ihre Familie beziehen Leistungen nach dem SGB II. Der Antragsteller erhält eine polnische Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von monatlich 220,38 €. Er leidet im Wesentlichen an Diabetes mellitus mit der Folge der Amputation beider Unterschenkel sowie an chronischer Herz- und Niereninsuffizienz.

Der Antragsteller beantragte am 11. Juli 2008 (mit am 7. Juli 2008 ausgefülltem Formularantrag) bei dem Antragsgegner die Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII. Der Antragsgegner lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 8. August 2008 ab. Der Antragsteller habe gemäß § 23 Abs 3 SGB XII keinen Anspruch auf Sozialhilfe, weil der Zweck der Inanspruchnahme von Sozialhilfe für seinen Einreiseentschluss von prägender Bedeutung gewesen sei. Sowohl ihm als auch seiner hier lebenden Familie sei klar gewesen, dass er seinen Lebensunterhalt durch seine Rente nicht sicherstellen könne und auch seine Familie ihn nicht unterstützen könne, weil sie selbst auf staatliche Leistungen angewiesen sei. Zudem stütze sich die Ablehnung der Gewährung von Sozialhilfeleistungen auch auf einen Beschluss des LSG Hessen vom 13. September 2007 - L 9 AS 44/07 ER -. Der Antragsteller erhob am 19. August 2008 Widerspruch und legte eine Stellungnahme seines Schwiegersohnes zu seinen Einreisegründen (nicht wegen Sozialhilfe, sondern wegen - in Polen nicht gesicherter - Betreuung und Pflege durch seine Tochter) vor. Über den Widerspruch ist noch nicht entschieden.

Der Antragsteller hat am 1. September 2008 bei dem Sozialgericht Hannover (SG) beantragt, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, ihm Leistungen nach dem SGB XII zu gewähren. Er hat unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung vom 20. August 2008 im Wesentlichen vorgetragen, er sei nicht zum Zweck der Inanspruchnahme von Sozialhilfe nach Deutschland gekommen, sondern allein deshalb, weil er pflegebedürftig sei und sich in Polen nach der dortigen Trennung von seiner Ehefrau niemand mehr um ihn kümmern könne. Er habe sich bereits einige Tage bevor seine Tochter und seine Enkelin zu ihm nach Polen gekommen seien ohne die erforderliche Hilfe in dem Schrebergarten seiner Familie ohne Wasser und Strom aufgehalten. Weil er aufgrund seiner schweren Diabetes einen lebensgefährlichen Zuckerschock erleiden könne, habe er dem Drängen seiner Tochter nachgegeben und sei zu ihr gezogen, um dort versorgt zu werden. An einen Bezug von Sozialhilfe habe er dabei nicht gedacht. Seine Tochter habe seinen Zuzug am 7. Juli 2008 ordnungsgemäß dem Jobcenter mitgeteilt, welches sie auf die Möglichkeit der Beantragung von Sozialhilfe bei dem Antragsgegner hingewiesen habe. Zugleich sei der Familie seiner Tochter vom Jobcenter der auf ihn entfallende Mietanteil abgezogen worden. Der Antragsgegner hat erwidert, im Rahmen der rechtlichen Würdigung sei § 23 SGB XII in Zusammenschau mit Artikel 24 Abs 2 der Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) zu betrachten, wonach der Aufnahmestaat nicht dazu verpflichtet sei, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls eines längeren Zeitraumes einen Ansp...

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