Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistung. Analogleistung. rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Inanspruchnahme von Kirchenasyl bis zum Ablauf der Überstellungsfrist nach Art 29 EGV 604/2013. Sozialwidrigkeit. Vorsatz. Bewusstsein eines Verstoßes gegen die Rechtsordnung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Verhindern aufenthaltsbeendender Maßnahmen durch die Inanspruchnahme von Kirchenasyl kann die Aufenthaltsdauer des Ausländers in Deutschland abstrakt-generell beeinflussen und damit ein rechtsmissbräuchliches Verhalten iS des § 2 Abs 1 AsylbLG darstellen. Etwas anderes kann in den Fällen gelten, in denen der Staat das Kirchenasyl nicht nur tatenlos hinnimmt, sondern auf der Grundlage von Vereinbarungen zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und den Kirchen zur Feststellung von Härtefällen mit den Kirchengemeinden kooperiert (faktische Legitimierung des Kirchenasyls).

2. Eine gebotene Prüfung des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kann ergeben, dass die Inanspruchnahme von Kirchenasyl nicht unentschuldbar (sozialwidrig) ist (hier wegen einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung).

3. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten iS des § 2 Abs 1 AsylbLG setzt voraus, dass der Ausländer das für den notwendigen Vorsatz erforderliche Bewusstsein hat, durch die Inanspruchnahme von Kirchenasyl gegen die Rechtsordnung zu verstoßen. An einem solchen Bewusstsein können im Einzelfall Zweifel bestehen, weil das Kirchenasyl in der Öffentlichkeit als zumindest staatlich akzeptiertes Recht der Kirche dargestellt wird.

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Stade vom 17.4.2019 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat auch die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung höherer Leistungen nach dem AsylbLG.

Der 1997 geborene Antragsteller ist liberianischer Staatsangehöriger. Er reiste am 5.11.2017 nach Deutschland ein und stellte hier einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Bescheid vom 25.1.2018 ablehnte. Er wurde Anfang Februar 2018 dem Antragsgegner zugewiesen und in einer Gemeinschaftsunterkunft in C. untergebracht. Am 22.5.2018 wurde er als Notfall in stationäre Behandlung in das D. n Diakonieklinikum in E., Klinikum für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie aufgenommen. Er wurde am 19.6.2018 mit der Hauptdiagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) aus der Klinik entlassen. Der Antragsgegner beabsichtigte, den Antragsteller am 19.7.2018 nach Italien zu überstellen. Nach Feststellung des Außendienstes der Ausländerbehörde des Antragsgegners hielt der Antragsteller sich am 20.6.2018 nicht mehr in der Gemeinschaftsunterkunft auf; sein Zimmer (Schrank/Bett) sah verlassen aus. Am 28.6.2018 teilte ein Vertreter der Kirchengemeinde F. dem Antragsgegner - Ausländerbehörde - mit, der Antragsteller sei dort schon vor einigen Tagen in das „Kirchenasyl“ aufgenommen worden. Er mache nach der Entlassung aus der Psychiatrie einen schlechten Eindruck, wirke verlangsamt, fast sediert, und nehme mehrere Medikamente. Es erscheine nicht verantwortbar, ihn in seiner jetzigen Verfassung nach Italien abzuschieben. Unter dem 26.7.2018 teilte das BAMF dem Antragsgegner mit, die Frist zur Überstellung nach Italien sei am 25.7.2018 abgelaufen, der Bescheid vom 25.1.2018 werde deshalb aufgehoben und eine Entscheidung ergehe jetzt im nationalen Verfahren. Das Kirchenasyl des Antragstellers endete am 1.8.2018, er erhielt eine Aufenthaltsgestattung zur Durchführung des Asylverfahrens.

Der Antragsgegner bewilligte dem Antragsteller mit Bescheid vom 10.8.2018 für 8/2018 und 9/2018 sowie mit Änderungsbescheid vom 25.10.2018 für 1/2019 und mit weiterem Änderungsbescheid vom 25.1.2019 für 1/2019 und 2/2019 jeweils Leistungen nach § 3 AsylbLG. Der Antragsteller erhob mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten am 19.2.2019 Widerspruch gegen den Bescheid vom 25.1.2019. Die bewilligten Leistungen seien zu niedrig, weil nicht die vollen Beträge aus § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und 6 AsylbLG bewilligt worden seien und die nach § 3 Abs. 4 AsylbLG erforderliche jährliche Anpassung an die Teuerung unterlassen worden sei. Der Antragsgegner wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.3.2019, auf den wegen der Begründung verwiesen wird, zurück.

Daraufhin hat der Antragsteller am 26.3.2019 bei dem Sozialgericht (SG) Stade Klage - S 19 AY 8/19 - erhoben und zugleich im vorliegenden Verfahren um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Zur Begründung hat er sich im Wesentlichen darauf berufen, das SG habe bereits mehrfach entschieden, dass nach § 3 Abs. 4 Satz 1 und 2 AsylbLG die fortgeschriebenen Leistungsbeträge bei der Leistungsberechnung zu berücksichtigen seien, sodass ihm im Wege der einstweiligen Anordnung ab dem 22.3.2019 vorläufig weitere 18,00 € monatliche ...

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