Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistung. Kenntnis des Leistungsträgers. Analogleistung. rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. sonstige Leistungen. Unerlässlichkeit für die Sicherung der Gesundheit. Eingliederungshilfe. ambulante Betreuungsleistungen wegen einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung. richtlinienkonforme Auslegung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Kenntnis des Leistungsträgers iS des § 18 Abs 1 SGB XII ist danach zu beurteilen, ob dessen Informationsstand so ist, dass er von Amts wegen in Ermittlungen eintreten muss (Anschluss an BSG vom 20.4.2016 - B 8 SO 5/15 R = BSGE 121, 139 = SozR 4-3500 § 18 Nr 3, RdNr 10).

2. Das Vereiteln einer Abschiebung durch Untertauchen kann die Aufenthaltsdauer des Ausländers in Deutschland abstrakt-generell beeinflussen und damit ein rechtsmissbräuchliches Verhalten iS des § 2 Abs 1 AsylbLG darstellen. Eine gebotene Prüfung des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kann aber ergeben, dass dies nicht unentschuldbar (sozialwidrig) ist (hier wegen einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung).

3. Zur Beurteilung, ob Leistungen zur Sicherung der Gesundheit iS des § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG unerlässlich sind, sind als Kriterien einzubeziehen zB die Qualität des betroffenen Rechtes (Grundrechtsrelevanz), Ausmaß und Intensität der tatsächlichen Beeinträchtigung im Falle der Leistungsablehnung sowie die voraussichtliche und bisherige Aufenthaltsdauer des Ausländers in Deutschland. Hierbei kommt auch der Entscheidung des BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10 ua = BVerfGE 132, 134 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 eine besondere Bedeutung zu.

4. Anders als die Regelungen des SGB XII differenziert § 6 Abs 1 S 1 AsylbLG nicht zwischen Gesundheitsleistungen (im engeren Sinne) und sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfeleistungen. Letztere sind nach dieser Vorschrift nicht von vornherein ausgeschlossen und können ausnahmsweise - insbesondere für behinderte Kinder - erbracht werden.

5. Seit Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie Aufnahmebedingungen 2013/33/EU (juris: EURL 33/2013) zum 21.7.2015 ist § 6 Abs 1 S 1 AsylbLG dahingehend richtlinienkonform auszulegen, dass Asylbewerber mit besonderen Bedürfnissen nach Art 19 Abs 2, 21 bis 25 der Richtlinie während der Dauer ihres Asylverfahrens einen Anspruch auf die "erforderliche medizinische und sonstige Hilfe" (entsprechend § 6 Abs 2 AsylbLG) haben (hier ambulante Betreuungsleistungen wegen einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung).

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 23. Mai 2017 aufgehoben.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Kosten für die ambulante Betreuung der Antragstellerin durch den Verein C., Hildesheim, in einem Umfang von drei Fachleistungsstunden je Woche ab Februar 2018 bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens betreffend diese Leistungen vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung zu übernehmen.

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das erst- und zweitinstanzliche Verfahren zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die Übernahme von Kosten für ambulant betreutes Wohnen als Leistungen nach dem AsylbLG bzw. SGB XII.

Die 1973 geborene Antragstellerin ist türkische Staatsangehörige, kurdischer Volkszugehörigkeit, und im September 1999 zum Zwecke der Familienzusammenführung mit einem Visum zu ihrem ersten Ehemann nach Deutschland eingereist. Nach schweren Misshandlungen durch diesen und mehreren Frauenhausaufenthalten wurde die Ehe im August 2006 geschieden. Im April 2007 heiratete die Antragstellerin einen türkischen Staatsangehörigen, der im September 2009 nach Deutschland einreiste und mit dem sie - soweit ersichtlich - noch heute verheiratet ist, aber nicht zusammenlebt. Bis Ende Mai 2010 verfügte sie über eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen. Der Antrag auf Verlängerung des Titels wurde vom Antragsgegner, in dessen Kreisgebiet die Antragstellerin im April 2009 gezogen ist, durch Bescheid vom 14. Juli 2010 mangels Vorliegen allgemeiner Erteilungsvoraussetzungen (Sicherung des Lebensunterhalts) abgelehnt. Klage und Eilantrag gegen diese Entscheidung blieben ohne Erfolg (vgl. Beschluss des OVG Lüneburg vom 18. Oktober 2010 - 11 ME 369/10, 13 B 3585/10 - und Urteil des VG Hannover vom 11. Januar 2011 - 13 A 3584/10 -).

Wegen der bevorstehenden Abschiebung unternahm die Antragstellerin im Oktober 2010 einen Suizidversuch. Ende Oktober 2010 und Ende Januar 2011 wurde sie mit der Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung mit suizidaler Dekompensation im D. Klinikum Hildesheim stationär aufgenommen. Amtsärztlich wurde für den Fall der Abschiebung vor dem Risiko einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustands der Antragstellerin und einer Retraumatisierung gewarnt, die weit über das Maß einer bei einer bevorstehenden Abschiebung allgemein zu erwarten...

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