Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. GdB. rückwirkende Feststellung. besonderes Interesse. Beschränkung auf offenkundige Fälle. Steuervorteile

 

Leitsatz (amtlich)

Ein "besonderes Interesse" an der rückwirkenden Feststellung eines GdB iS des § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV ist im Regelfall zu verneinen, wenn die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft allein mit der Begründung begehrt wird, dass für die nachträglichen Anerkennungszeiten noch Steuervorteile gegenüber der Finanzverwaltung geltend gemacht werden könnten.

 

Orientierungssatz

Die Änderung des Status des Schwerbehinderten wirkt prinzipiell nur in die Zukunft; eine beschränkte Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Antragstellung (§ 6 Abs 1 S 1 SchwbAwV) trägt dem Interesse der behinderten Menschen daran Rechnung, dass sie nicht durch die Dauer eines Verwaltungsverfahrens unzumutbar benachteiligt werden. Nach Antragstellung können sie auch bei allen wesentlichen Belangen bereits auf ein laufendes Verfahren zur Anerkennung hinweisen. Die weitere Rückwirkung eines Antrags, wie sie in § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV vorgesehen ist, muss daher auf offenkundige Fälle beschränkt werden (vgl BSG vom 29.5.1991 - 9a/9 RVs 11/89 = BSGE 69, 14 = SozR 3-1300 § 44 Nr 3).

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Anerkennung eines  Grades der Behinderung (GdB) von 80 bereits ab dem 17.10.1990 anstatt, wie  von dem Beklagten festgestellt, ab Januar 1999.

Die in Rumänien geborene Klägerin wurde mit Zivilurteil des Kreis-Tribunals  X./Rumänien von ihren gesetzlichen Vertretern adoptiert; die Adoption nach  deutschem Recht erfolgte mit Beschluss des Amtsgerichts X. vom 02.03.1993.

Nach einem Gutachten der Therapieambulanz "Hilfe für das autistische Kind"  Regionalverband X. e.V. leidet die Klägerin an einem Hospitalismus-Syndrom  infolge frühkindlicher Erfahrungen, wobei der Hauptschwerpunkt der  Problematik in einer gestörten Wahrnehmung liegt.

Am 23.12.1999 stellten die Eltern der Klägerin für diese erstmals einen  Antrag auf Anerkennung von Behinderungen nach den Bestimmungen des  Schwerbehindertengesetzes (SchwbG).

Auf diesen Antrag stellte der Beklagte nach Beiziehung verschiedener  medizinischer Befundberichte und Gutachten mit Bescheid vom 20.06.2000  einen GdB von 50 ab Januar 1999 fest.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Widerspruch mit der Begründung  ein, dass bei ihr nicht nur ein GdB von 50 vorliege und außerdem der GdB  nicht erst seit Januar 1999 nachgewiesen sei.

Im Widerspruchsverfahren holte der Beklagte ein nervenfachärztliches  Gutachten von Dr. N. X (erstattet am 05.08.2000) ein. Dr. X führte in der  Zusammenfassung seines Gutachtens aus, dass bei der Klägerin ein komplexe  psychische Behinderung mit sozialen Anpassungsstörungen, Lernbehinderung  sowie einer apraktischen Störung vorliege. Der GdB hierfür betrage 80.  Weiterhin seien die Voraussetzungen für die Gewährung der gesundheitlichen  Merkzeichen "H" und "B" erfüllt.

Nach Auswertung dieses Gutachtens durch die Versorgungsärztin Dr. X.-X (mit  Stellungnahme vom 30.11.2000) bewertete der Beklagte mit  Widerspruchsbescheid vom 07.12.2000 den GdB mit 80 und erkannte die  Voraussetzungen für das Vorliegen der Merkmale "G" und "B" an; der  weitergehende Widerspruch wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass die  Anerkennung des GdB von 80 bereits ab dem Zeitpunkt der Geburt am  19.02.1989 nicht gerechtfertigt sei, da keinerlei ärztliche Unterlagen aus  rückliegender Zeit vorlägen, die die Schwerbehinderung ab einem früheren  Zeitpunkt als dem 01.01.1999 nachweisen würden.

Gegen den Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 12.01.2001 Klage  erhoben.

Den im Klageverfahren gestellten Antrag auf Bewilligung von  Prozesskostenhilfe (PKH) hat das Sozialgericht für das Saarland (SG) mit  Beschluss vom 16.08.2001 mit der Begründung abgelehnt, dass die Klage keine  Aussicht auf Erfolg habe. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts  (BSG) seien die "Leistungen" nach dem SchwbG (jetzt: 9. Buch des  Sozialgesetzbuchs, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB  IX)) keine Sozialleistungen, die von der zuständigen Behörde erbracht  würden. Vielmehr handele es sich in einem weiteren Sinne um  verfahrensmäßige "Dienstleistungen" zugunsten der Behinderten mit  Außenwirkung gegenüber anderen. Vom Inhalt und von den Rechtswirkungen her  seien solche "Leistungen" und damit auch die Feststellung der  Schwerbehinderteneigenschaft nur ab Antrag mit Wirkung für die Zukunft zu  treffen. Denn die Rechtsstellung als Schwerbehinderter mit einem bestimmten  GdB könne sich nur in der Zukunft auf die Gestaltung verschiedener  Rechtsverhältnisse auswirken. Deshalb fehle es regelmäßig bei Klagen auf  rückwirkende Feststellung eines GdB an dem erforderlichen  Rechtsschutzbedürfnis. Wenn die Klägerin vortrage, ihren gesetzlichen  Vertretern könnten möglicherweise rückwirkend Steuervorteile zufließen,  indem eine neue steuerliche Veranlagung beim Finanzamt erreicht werden  könne, fü...

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