Entscheidungsstichwort (Thema)

Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht wegen unterbliebener Ermittlungen

 

Orientierungssatz

1. Bei der Auslegung eines gestellten Antrags ist nach dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Meistbegünstigungsgrundsatz im Zweifel davon auszugehen, dass der Erklärende alles begehrt, was nach Lage des Falles ernsthaft in Betracht kommt.

2. Zur Auslegung eines erhobenen Widerspruchs kann auf den ursprünglich gestellten Antrag zurückgegriffen werden. Hat der Betreffende mit seinem ursprünglichen Antrag u. a. die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises geltend gemacht und dazu ein Passbild übersandt, so richtet sich der eingelegte Widerspruch gegen die Versagung des Schwerbehindertenstatus, der erst ab einem GdB von 50 zuerkannt werden kann.

3. Einem solchen Widerspruchsbegehren wird mit der Feststellung eines GdB von lediglich 30 nicht in vollem Umfang abgeholfen.

4. Weist das Sozialgericht die erhobene Klage als unzulässig mit der Begründung ab, die Versorgungsverwaltung habe dem Widerspruchsbegehren des Klägers vollständig abgeholfen, so kann die ergangene gerichtliche Entscheidung keinen Bestand haben.

5. Im Rahmen der vom Berufungsgericht nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG zu treffenden Ermessensentscheidung kann es die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn es dem Erhalt des Instanzenzugs den Vorrang gegenüber dem Interesse der Beteiligten an einer möglichst schnellen Sachentscheidung den Vorrang einräumt.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 27. August 2015 aufgehoben und die Sache an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50.

Die 1951 geborene Klägerin wandte sich am 27. Juni 2014 mit dem dafür vorgesehenen behördlichen Vordruck an den Beklagten und beantragte, den GdB sowie jedenfalls das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen “G„ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) festzustellen und ihr einen Ausweis nach § 69 Abs. 5 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) auszustellen. Diesem Antrag fügte sie ein Passfoto bei und machte unter Vorlage ärztlicher Unterlagen geltend, dass sie durch Gelenkprobleme, ein Wirbelsäulenleiden, ein Augenleiden, Schlafstörungen, eine Allergie, eine Schwerhörigkeit, ein Venenleiden sowie durch vermutlich auf Rheuma zurückzuführende Beschwerden in der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sei. Der Beklagte holte Befundberichte ihrer behandelnden Ärzte ein und stellte auf der Grundlage einer ärztlichen Stellungnahme von Dr. Z mit seinem Bescheid vom 25. August 2014 fest, dass der GdB im Fall der Klägerin 20 betrage. Das Vorliegen von Merkzeichen, insbesondere das Vorliegen des Merkzeichens “G„, könne nicht festgestellt werden. Zur Begründung führte er aus, dass bei der Klägerin erstens eine Schwerhörigkeit beidseits sowie zweitens eine Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, eine Funktionsbehinderung der Finger und eine Funktionsbehinderung des Kniegelenkes beidseits vorlägen, die er intern mit Einzel-GdB von jeweils 20 bewertete.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin mit Schreiben vom 2. September 2014 unter dem Betreff “Ihr Bescheid vom 25. 08.2014 über die Feststellung [des] Grades der Behinderung von 20„ Widerspruch ein und führte aus, sie gehe davon aus, dass der Beklagte entweder keine vollständigen Arztberichte eingeholt oder die eingeholten Arztberichte nicht in vollem Umfange berücksichtigt habe, und bitte um Einsicht in die Entscheidungsgrundlagen. Nachdem ihr der Beklagte die eingeholten Befundberichte sowie die ärztliche Stellungnahme von Dr. Z übersandt hatte, machte sie mit weiterem Schreiben vom 9. November 2014 geltend, dass sie nunmehr gegen Rheuma medikamentös behandelt werde, wodurch unerwünschte Nebenwirkungen aufträten. Sie sei der Meinung, “dass die Verschlechterung [ihres] Zustandes einen höheren GdB als 20 darstellt„, und bitte um erneute Bewertung. Der Beklagte holte daraufhin einen weiteren Befundbericht ein und legte die vorhandenen medizinischen Unterlagen dem Chirurgen/Gefäßchirurgen Dr. L vor, der empfahl, bei der Klägerin erstens eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei Bandscheibenschäden, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, zweitens eine Schwerhörigkeit beidseits und drittens eine entzündlich-rheumatische Erkrankung der Gelenke als Behinderungen zu berücksichtigen, diese Behinderungen mit Einzel-GdB von jeweils 20 zu bewerten und den Gesamt-GdB mit 30 festzustellen.

Dieser Empfehlung folgend gab der Beklagte dem Wortlaut seiner Ausführungen nach dem Widerspruch mit seinem Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2015 statt und stellte den GdB unter Wiedergabe der von Dr. L angeführten Funktionsbeeinträchtigu...

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