Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. gesamtschuldnerische Beitragshaftung gem § 150 Abs 2 S 2 SGB 7 iVm § 130 Abs 2 SGB 7. alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer bzw Bevollmächtigter einer deutschen unselbstständigen Zweigniederlassung einer nach englischem Recht gegründeten Gesellschaft mit beschränkter Haftung. britische Limited. Europarechtskonformität. Niederlassungsfreiheit. Unternehmenssitz. Gründungstheorie. Sitztheorie. Insolvenz. Betriebsstätte. Organisatorischer Mittelpunkt

 

Leitsatz (amtlich)

Der "Sitz" eines Unternehmens im Sinne des § 130 Abs 2 SGB 7 bestimmt sich in erster Linie nach Maßgabe der für das Unternehmen gewählten rechtlichen Konstanten und allenfalls hilfsweise nach dem organisatorischen Mittelpunkt des Unternehmens, von dem aus der Betrieb kaufmännisch und technisch geleitet wird und wo sich die Betriebsanlagen befinden. Allein die Existenz einer Zweigniederlassung kann nicht zu einem Sitz des Unternehmens im Inland führen.

§§ 13d - 13g HGB stellen als Ausfluss der gemeinschaftsrechtlich verbürgten Niederlassungsfreiheit bei Unternehmen mit Sitz im Ausland darauf ab, dass im Geltungsbereich des HGB lediglich eine Niederlassung eingetragen wird, ohne dass hierdurch eine Änderung des Unternehmenssitzes eintritt bzw ein Sitz im Inland begründet würde.

Nur diese Rechtsfolge entspricht auch der durch den EuGH entwickelten Gründungstheorie, wonach - wenn ein EU-Staatsangehöriger in einem EU-Mitgliedstaat rechtmäßig eine Kapitalgesellschaft gründet, die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft dann aber ausschließlich in einem anderen Mitgliedstaat entfaltet wird - dies nichts daran ändert, dass auf die Gesellschaft nach wie vor das Recht des Gründungsstaates Anwendung findet, sie also ihrer Rechtsnatur nach auch im Inland eine ausländische bleibt.

Werden somit Gestaltungsmöglichkeiten genutzt, um mit einer nach ausländischem Recht errichteten Gesellschaft geschäftliche Tätigkeiten in Deutschland zu entfalten, so ist diese nach ausländischem Recht errichtete Gesellschaft auch gegenüber dem Unfallversicherungsträger als ausländisches Unternehmen anzusehen.

 

Orientierungssatz

1. Ein gem § 130 Abs 2 S 1 SGB 7 bestellter Bevollmächtigter hat gegenüber dem Unfallversicherungsträger alle Unternehmerpflichten und haftet insbesondere gemäß § 150 Abs 2 S 2 SGB 7 gesamtschuldnerisch für Beiträge.

2. Zur Gründungstheorie in Abgrenzung zur Sitztheorie im Rahmen des internationalen Gesellschaftsrechts.

 

Normenkette

SGB VII § 130 Abs. 2, § 150 Abs. 2 S. 2; AEUV Art. 49, 54

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 30.03.2017; Aktenzeichen B 2 U 10/15 R)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 4. März 2013 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens für beide Rechtszüge.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird auch für das Berufungsverfahren auf 8.639,41 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Streitig zwischen den Beteiligten ist, ob der Geschäftsführer einer insolventen deutschen Zweigniederlassung einer Limited (Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach englischem und walisischem Recht) für Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung haftet.

Die Firma B & F L Limited ist im Handelsregister für England und Wales (Companies House, C) mit dem Sitz im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland (postalische Anschrift, G Street, B, als Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach englischem und walisischem Recht eingetragen. Gegenstand des Unternehmens sind Maurer-, Putz- und Betonarbeiten, Trockenbau, Abriss und Entkernung, Einbau von genormten Baufertigteilen, Erdarbeiten, Garten- und Zaunbau, Waldbau, Durchforstung, Aufforstung, Wildzaunbau, Holzeinschlag, Fällung von Gefahrbäumen sowie Lieferung von Kamin- und Brennholz. Der Gesellschaftsvertrag wurde am 24. November 2005 abgeschlossen. Von 100 Gesellschaftsanteilen wurden 34 Anteile durch den Kläger gehalten, je 33 weitere von H L sowie von H H. Das Haftungskapital der Gesellschaft betrug 100 britische Pfund, unterteilt in 100 Anteile zu je 1 Pfund. Unter dem 9. Januar 2006 überschrieb H L 16 seiner Gesellschaftsanteile an den Kläger, 17 weitere an H H. Unter Ziffer 31. (A) der Bestimmungen zur Gesellschaftsgründung heißt es, alle Streitigkeiten zwischen den Gesellschaftern sowie der Gesellschafter mit der Gesellschaft oder ihren Organen werden den Gerichten der Bundesrepublik Deutschland zugewiesen, sofern die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in der Bundesrepublik Deutschland unterhält.

Am 29. Dezember 2005 wurde bei der Gemeinde R eine Zweigstelle dieses Unternehmens unter der Anschrift S Straße, R, Ortsteil G als Gewerbe angemeldet. Als Ort der Hauptniederlassung wird in der Gewerbeanmeldung die Anschrift G Street in B benannt. Die Zweigstelle in R beschäftigte bis zu 14 Arbeitnehmer. Die Geschäftstätigkeit wurde zum 1. Januar 2006 aufgenommen. Die Anmeldung über die Errichtung einer Zweigniederlassung im Handelsregister des Amtsgeric...

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