Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragszahnarzt. Zulassungsentziehung. Prognose über künftig pflichtgemäßes Verhalten bei länger zurückliegenden gröblichen Pflichtverletzungen. Unerheblichkeit von Versäumnissen der Zulassungsgremien

 

Leitsatz (amtlich)

Ob den Zulassungsgremien oder der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigung in einem Verfahren zur Entziehung der vertrags(zahn)ärztlichen Zulassung Versäumnisse anzulasten sind - etwa wegen zu zögerlicher Bearbeitung oder wegen unzureichender Ermittlungen -, ist für die Frage, ob ein Vertrags(zahn)arzt seine fehlende Eignung wiedererlangt hat, ohne Bedeutung.

 

Orientierungssatz

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet es, Pflichtverletzungen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung der Zulassungsgremien bereits länger als die übliche Bewährungszeit von fünf Jahren zurück liegen, nur dann noch zur Grundlage einer Zulassungsentziehung zu machen, wenn sie besonders gravierend sind (zB Fälle systematischen Fehlverhaltens im Behandlungs- oder Abrechnungsbereich) oder aus anderen Gründen - etwa bei fortgesetzter Unwirtschaftlichkeit - bis in die Gegenwart hinein fortwirken (vgl BSG vom 19.7.2006 - B 6 KA 1/06 R = SozR 4-2500 § 95 Nr 12).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 02.04.2014; Aktenzeichen B 6 KA 58/13 B)

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. Januar 2012 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 2 bis 6), die diese selbst tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung, die mit der Abrechnung nicht erbrachter Leistungen begründet wird.

Der 1951 geborene Kläger nimmt seit 1984 als Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde an der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung im B Stadtteil W teil. Gegen ihn ermittelten seit September 2000 die Berliner Strafverfolgungsbehörden, nachdem ihnen im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen einen anderen Vertragsarzt bekannt geworden war, dass beide zu einer Gruppe von Ärzten gehörten, die Gefälligkeitsüberweisungen von sogenannten "Phantompatienten" ausgetauscht hatten. Zahlreiche Patienten, für die der Kläger in den Quartalen IV/97 bis III/98 Leistungen gegenüber der Beigeladenen zu 1) abgerechnet hatte, gaben bei ihrer polizeilichen Vernehmung an, ihn nicht zu kennen. Ferner wurde dem Kläger vorgeworfen, Gebührenordnungspositionen (GOP) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) abgerechnet zu haben, obwohl in seiner Praxis die sachlichen Voraussetzungen hierfür nicht vorgelegen hätten.

Die Beigeladene zu 1), die Kassenärztliche Vereinigung, erfuhr spätestens im Mai 2000 aufgrund eines polizeilichen Amtshilfeersuchens erstmals von den Verdachtsmomenten gegen den Kläger. In der Folgezeit übermittelte die Beigeladene zu 1) den Strafverfolgungsbehörden aufgrund entsprechender Anfragen im Rahmen des gegen den Kläger gerichteten Ermittlungsverfahrens zahlreiche medizinische und abrechnungstechnische Informationen. Am 30. Januar 2001 wurden die Praxis und die Privatwohnung des Klägers auf der Grundlage eines richterlichen Beschlusses durchsucht und hierbei zahlreiche Krankenunterlagen sowie ein PC (in der Privatwohnung des Klägers) beschlagnahmt. Auf eine Anfrage vom 6. Februar 2002 hin erhielten die Beigeladene zu 1) und der Zulassungsausschuss den polizeilichen Sachstandsbericht vom 19. Februar 2002 nebst einiger beigefügter Zeugenaussagen. Am 29. Mai 2002 beschloss der Vorstand der Beigeladenen zu 1), beim Disziplinarausschuss die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen den Kläger und beim Zulassungsausschuss die Entziehung der vertragsärztlichen Zulassung zu beantragen.

Die Entscheidung über den Disziplinarantrag vertagte der Disziplinarausschuss der Beigeladenen zu 1) in seinen Sitzungen vom 4. Dezember 2002 und 8. Oktober 2003, jeweils im Hinblick auf die laufenden strafrechtlichen Ermittlungen. In seiner Sitzung vom 14. Januar 2004 (Beschluss vom 14. Juni 2004) beschloss der Disziplinarausschuss, das Ruhen der klägerischen Zulassung für zwei Jahre sowie die sofortige Vollziehung seiner Entscheidung anzuordnen. Nachdem zunächst das Sozialgericht mit Beschluss vom 10. September 2004 (Az.: S 71 KA 151/04 ER) die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Disziplinarbescheid wiederhergestellt hatte, hob die Beigeladene zu 1) im Rahmen eines gerichtlichen Vergleiches vom 22. März 2006 den Disziplinarbescheid vom 14. Juni 2004 auf und verpflichtete sich, nach Abschluss des Strafverfahrens erneut über die Festsetzung einer Disziplinarmaßnahme zu entscheiden.

Der Zulassungsausschuss, bei dem der Antrag auf Zulassungsentziehung am 11. Juni 2002 eingegangen war, führte seine für den 13. Januar 2003 bzw. 24. November 2004 anberaumten Verhandlungstermine auf Anregung der Beigeladenen zu 1) bzw. der Klägerseite nicht durch.

Mit Urteil vom 21. August 2006 verurteilte das Amtsgericht Tiergarten in Berlin (Az.:...

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