Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen eines Anspruchs des EU-Ausländers auf Leistungen des SGB 2 bzw. des SGB 12

 

Orientierungssatz

1. Von dem Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft i. S. von § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB 2 ist dann auszugehen, wenn eine gewisse Ausschließlichkeit der Beziehung unter den Partnern gegeben ist, die keine vergleichbare Lebensgemeinschaft daneben zulässt. Diese müssen in einem gemeinsamen Haushalt zusammenleben, sodass der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.

2. Für die generelle Freizügigkeitsvermutung eines EU-Ausländers nach § 2 Abs. 5 FreizügG genügt dessen rechtmäßige Einreise nach Deutschland und ein gültiger Pass. Die Vermutung eröffnet aber weder einen Zugang zu Leistungen des SGB 2 noch steht sie dem Ausschluss von Leistungen nach dem SGB 2 entgegen.

3. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 ist mit EU-Recht vereinbar; er ist auch verfassungsgemäß.

4. Nach § 23 Abs. 3 S. 1 SGB 12 haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, keinen Anspruch auf Sozialhilfe.

5. Dieser Leistungsausschluss gilt aber nicht für Leistungen der Sozialhilfe, wie sie § 23 Abs. 1 S. 3 SGB 12 im Wege des Ermessens zu leistender Sozialhilfe vorsieht.

6. Hat der EU-Ausländer als Antragsteller von Leistungen des SGB 12 bereits kurz nach seiner Einreise eine Erwerbstätigkeit aufgenommen, so gilt nach § 23 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB 12 und § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG eine typisierende Annahme einer Aufenthaltsverfestigung nach Ablauf von sechs Monaten tatsächlichem Aufenthalt in Deutschland.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. Dezember 2016 geändert.

Der Beigeladene wird verurteilt, der Klägerin Leistungen nach dem SGB XII vom 1. September 2013 bis 31. Oktober 2013 in Höhe von monatlich 382,00 EUR, vom 1. November 2013 bis 31. Dezember 2013 in Höhe von monatlich 694,00 EUR sowie vom 1. Januar 2014 bis 28. Februar 2014 in Höhe von monatlich 703,00 EUR zu gewähren.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Beigeladene hat der Klägerin neun Zehntel ihrer außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten. Ansonsten haben die Beteiligten einander Kosten nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt in erster Linie vom Beklagten die Gewährung von Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. September 2013 bis zum 31. Dezember 2013 in Höhe von monatlich 694,00 EUR sowie vom 1. Januar 2014 bis zum 28. Februar 2014 in Höhe von monatlich 703,00 EUR, hilfsweise, von dem Beigeladenen Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für den bezeichneten Zeitraum und in der bezeichneten Höhe.

Die erwerbsfähige Klägerin ist 1966 geboren. Sie besitzt allein die litauische Staatsangehörigkeit. Sie arbeitete von 1987 bis 2011 in K als Kinderkrankenschwester. Die Klägerin war seit 1989 verheiratet. Die Eheleute erwarben 1998 gemeinsam eine 82,4 qm große Eigentumswohnung in K, die sie zusammen mit den drei Töchtern bewohnten. Die Klägerin hielt ein Drittel des Eigentumsanteils. Die Klägerin trennte sich von ihrem nach ihren Angaben gewalttätigen Ehemann und suchte zunächst in K eine eigene Wohnung. Die Eheleute sind seit 27. November 2015 geschieden (vgl. Genehmigung der Scheidungsfolgenvereinbarung durch Beschluss des Amtsgerichts vom 27. November 2015).

Die Klägerin reiste nach ihren Angaben auf Einladung der GG mbH (dem größten Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen im Nordosten B) im September 2011 mit litauischen Kolleginnen in die Bundesrepublik Deutschland ein und bewohnte zunächst eine von der G gestellte Unterkunft. Sie erlernte die deutsche Sprache und arbeitete vom 8. März 2012 bis 12. Juli 2012 als Servicekraft in einem Krankenhaus in E. Das Arbeitsverhältnis wurde durch eine Kündigung des Arbeitgebers beendet, die Klägerin hatte sich den linken Fuß gebrochen. Vom 1. August 2012 bis 31. März 2013 bezog sie in E Arbeitslosengeld II, mietete dort eine eigene Wohnung an und besuchte einen fünfmonatigen Integrationskurs bis Dezember 2012. Im September 2012 lernte sie über das Internet den sechzehn Jahre älteren selbständigen Elektriker W R (im Folgenden WR) aus B kennen, der sie zunächst bei der Instandsetzung ihrer angemieteten Wohnung in E unterstützte. Weil die Klägerin ihre Chancen, eine Arbeit zu erhalten, in als höher erachtete, hielt sie sich ab Ende 2012 zeitweilig in B bei Freunden bzw. in einem von WR angemieteten Gartenhaus in der H S in B auf. Seit 12. Januar 2013 wurde die Klägerin bei der Bundesagentur für Arbeit in R als arbeitslos geführt.

WR, der zu dieser Zeit nach seinen Angaben zwar - bereits seit 2000 - von seiner Ehefrau getrennt lebte, aber ein Zimmer in der früheren, weiterhin von der Ehefrau genutzten Ehewohnung in der Gstin unmittelbarer Nachbarschaft...

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