Entscheidungsstichwort (Thema)

Versorgung eines lebensbedrohlich Erkrankten mit Medizinal-Cannabis-Blüten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes

 

Orientierungssatz

1. Medizinal-Cannabis-Blüten sind als Rezepturarzneimittel anzusehen, für das grundsätzlich eine entsprechende Anwendungsempfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) nach § 135 SGB 5 erforderlich ist. Eine entsprechende Empfehlung des GBA fehlt bisher.

2. Ausnahmsweise besteht nach § 2 Abs. 1a SGB 5 ein Versorgungsanspruch bei einem voraussichtlich tödlichen Krankheitsverlauf, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf existiert.

3. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt oder schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, so ist ihm die begehrte Leistung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes aufgrund einer Folgenabwägung zu gewähren.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes über die Versorgung der Antragstellerin mit Medizinal-Cannabisblüten.

Die 1981 geborene Antragstellerin ist bei der Antragsgegnerin versichert. Der behandelnde Arzt Dr. G beantragte mit Schreiben vom 22. Juli 2014 bei der Antragsgegnerin den Verzicht auf einen sonstigen Schaden bei der Verordnung von Dronabinol-Tropfen. Die Antragstellerin sei an einem Tumor des Zungengrundes erkrankt. Sie leide außerdem an starker Appetitlosigkeit und Hunger mit deutlicher Gewichtsabnahme in den letzten Monaten. Die geplante Medikation sei als palliative und krankenhausersetzende Therapie geplant. Eine parenterale Ernährung sollte erst nach einer Dronabinol-Therapie diskutiert werden. Andere gleichwirksame Therapien oder Medikamente seien nicht bekannt.

Durch Bescheid vom 14. August 2014 erklärte die Antragsgegnerin gegenüber der Antragstellerin, dass Dronabinol von einer Verordnung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen sei. Eine Kostenübernahmebestätigung sei deswegen nicht möglich.

Die Antragstellerin legte am 19. September 2014 Widerspruch ein. Daraufhin holte die Antragsgegnerin bei dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) eine gutachterliche Stellungnahme ein. Der MDK befand in seinem Gutachten vom 17. Oktober 2014, es sei nicht erkennbar, dass die vertraglichen Möglichkeiten der Palliativmedizin ausgeschöpft seien. Diese sollten hier zum Einsatz kommen. Eine Leistungspflicht für die beantragte Behandlung bestehe dagegen nicht. Die Antragsgegnerin informierte die Antragstellerin über das Ergebnis der Begutachtung durch Schreiben vom 23. Oktober 2014.

Am 12. Januar 2015 beantragte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin nunmehr eine Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten. Sie legte eine Erlaubnis zum Erwerb nach § 3 Abs. 2 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) vor. Die Antragsgegnerin fragte in ihrem ablehnenden Bescheid vom 15. Januar 2014 an, ob die vom MDK vorgeschlagenen Therapiemöglichkeiten bereits zum Einsatz gekommen seien. Unter den bisherigen Voraussetzungen könne einer Kostenübernahme nicht zugestimmt werden. Dagegen legte die Antragstellerin Widerspruch ein und forderte die Antragsgegnerin am 17. Februar 2015 nochmals zur Kostenübernahme auf.

Mit dem am 17. März 2015 bei dem Sozialgericht Neuruppin eingegangenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt die Antragstellerin die Verpflichtung der Antragsgegnerin, die Kosten für eine Therapie mit Medizinal-Cannabis zu übernehmen. Die monatlichen Kosten würden etwa 1.300,- EUR im Monat betragen. Als Bezieherin von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende sei sie selbst zu einer Finanzierung nicht in der Lage.

Das Sozialgericht hat Befundberichte bei den behandelnden Ärzten Dres. P, G und K eingeholt. Es hat durch Beschluss vom 4. Mai 2015 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Antragstellerin den Anspruch auf Versorgung nicht ausreichend glaubhaft gemacht habe. Bezüglich der Versorgung mit Arzneimitteln sei zu differenzieren zwischen Fertigarzneimitteln und Rezepturarzneimitteln. Vorliegend handele es sich um ein Rezepturarzneimittel, für das zwar keine arzneimittelrechtliche Zulassung nötig sei. Es fehle aber an der nach § 135 SGB V für den Einsatz von Rezepturarzneimitteln erforderlichen befürwortenden Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschuss. Deren Fehlen könne die Anwendungsempfehlung des behandelnden Arztes der Antragstellerin nicht ersetzen. Daran ändere die der Antragstellerin erteilte Ausnahmeerlaubnis nach § 3 Abs. 2 BMG nichts. Auch ein Seltenheitsfall oder ein so genanntes Systemversagen lägen nicht vor. Die Annahme eines Seltenheitsfalles scheitere daran, dass weder die Krebserkrankung noch die damit verbundene Kachexie so selten seien, dass keine systematische Erforschung und Behandlung möglich seien. Ein Leistungsanspruch der Antragstellerin ergebe sich ebenso wenig aus der...

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