Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Feststellung von Berufskrankheiten. Anwendung der RVO. Zuständigkeitskonkurrenz zwischen mehreren Berufsgenossenschaften. letzter Ausübungszeitpunkt der gefährdenden Tätigkeit maßgeblich. Feststellung einer Polyneuropathie. Erforderlichkeit einer elektrophysiologischen Untersuchung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Zuständigkeit bei Berufskrankheiten richtet sich auch unter Anwendung der RVO nach dem Unternehmen, in dem die gefährdende Tätigkeit zuletzt ausgeübt wurde.

2. Für die Diagnose einer Polyneuropathie ist eine elektrophysiologische Untersuchung unerlässlich.

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 4. Januar 2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Klägers sind von der Beklagten auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellungen der Berufskrankheiten nach den Nummern (Nrn.) 1302, 1310 und 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).

Er wurde 1968 geboren und absolvierte nach dem Hauptschulabschluss von September 1984 bis Juni 1987 eine Lehre zum Betriebsschlosser bei der S. GmbH, wo er anschließend bis September 2010, mit Ausnahme der Zeit von Juni 1991 bis Anfang Februar 1992, in der er als Drahterodierer bei der D. S. GmbH & Co. KG beschäftigt war, in einem Arbeitsverhältnis als Einrichter in der Felgenfertigung für Personenkraftwagen (Pkw) stand. Ab November 2007 erkrankte er arbeitsunfähig. Nach einer gescheiterten beruflichen Wiedereingliederung im November 2009 und im Folgemonat wurde er freigestellt. Ab Oktober 2010 war er arbeitsuchend und begann im Juli 2011 über die Trägerin der gesetzlichen Rentenversicherung eine kaufmännische Weiterbildung, die er aufgrund progredienter gesundheitlicher Beschwerden im Februar 2012 abbrach. Im Januar 2008 wurde er wegen eines follikulären Schilddrüsenkarzinoms beidseitig in der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirugie der H. Klink, G., operiert. Mittlerweile bezieht er von der D. Rentenversicherung B. eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Nachdem beim Kläger im Mai 1995 im Blut 225 µg/l Pentachlorphenol (PCP) festgestellt worden war, meldete der Hausarzt des Klägers, Dr. E., diese Erhebung der S. M.-Berufsgenossenschaft, einer Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden: Beklagte). Im Betrieb sei angeblich Schmiermittel benutzt worden, welches PCP und „Digoxin“ enthalten habe. Bis auf rezidivierende Atemwegsinfektionen mit Husten und Halsschmerzen sei der Kläger derzeit beschwerdefrei gewesen.

Dr. C., Ärztin für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, diagnostizierte im Juli 1995 eine multisensorische neurootologische Funktionsstörung, eine zentrale cerebello-ponto-bulbäre Gleichgewichtsstörung, eine zentrale Reaktionshemmung des optokinetischen Systems und eine supratentorielle Hörbahnverlangsamung.

Dr. B., Nervenarzt, diagnostizierte nach der ambulanten Untersuchung des Klägers im August 1995 eine Polyneuropathie, extrapyramidale Schäden sowie eine Leistungs- und Wesensveränderung durch toxische Arbeitsstoffe, vor allem PCP.

Priv.-Doz. Dr. B., Arzt für Laboratoriumsmedizin und Mikrobiologie, erhob Anfang Juli 1995 im Blut des Klägers 46 µg/l PCP und Anfang November dieses Jahres 15 µg/l.

In dem von der Beklagten eingeleiteten Verfahren zur Feststellung einer Berufskrankheit wurden weitere ärztliche Befundberichte, Messberichte des Schadstoffgehaltes in den Arbeitsstoffen und im Blut, Stellungnahmen des Präventionsdienstes zur beruflichen Schadstoffeinwirkung während der Tätigkeit des Klägers in der Felgenfertigung sowie entsprechende Sicherheitsdatenblätter beigezogen. Seine von der Beklagten beabsichtigte gutachterliche Untersuchung konnte nicht durchgeführt werden, weil er sämtliche vorgeschlagenen Gutachter ablehnte. Die Klage beim Sozialgericht U. (SG) im Verfahren S 5 U 685/97, mit der er die Verpflichtung der Beklagten verfolgte, einen bestimmten Gutachter zu hören, wurde mit Urteil vom 5. Dezember 1997 als unzulässig verworfen. Die hiergegen gerichtete Berufung beim Landessozialgericht B.-W. (LSG) im Verfahren L 10 U 1445/98 nahm er im Dezember 1998 zurück.

Die Beklage versagte dem Kläger mit Bescheid vom 10. Juni 1999 die Gewährung von Leistungen, solange er seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkomme. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 1. Dezember 1999 zurückgewiesen. Die beim SG deswegen erhobene Klage im Verfahren S 5 U 3014/99 nahm der Kläger im Dezember 2000 zurück.

Dr. B. zeigte der A. B.-W., wo der Kläger gegen Krankheit gesetzlich versichert war, im Juli 2011 den Verdacht auf eine Berufskrankheit an. Es sei zu einer schweren Schädigung durch Arbeitsstoffe in der Räderfabrik mit einer Polyneuropathie, einer Myopathie, einem Schilddrüsentumor, einem Leistungsabfall und einer Depressivität gekommen. Die Beschwerden in Form von Kopf- und Gelenkschmerzen sowie einem Tinnitus seien auf Kühlschmiermittel zurückzuführen, welche PCP und Dioxin enthielten. Die...

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