Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss bei längerer stationärer Unterbringung. Begriff der stationären Einrichtung. Häftling im Maßregelvollzug in einer psychiatrischen Entziehungsanstalt mit Vollzugslockerungen

 

Orientierungssatz

1. Als stationäre Einrichtung iS von § 7 Abs 4 Alt 1 SGB 2 kann jede vollstationäre Einrichtung aufgefasst werden, in welcher der Einrichtungsträger von der Aufnahme bis zur Entlassung des Hilfebedürftigen die Gesamtverantwortung für dessen tägliche Lebensführung übernimmt und Gemeinschaftseinrichtungen vorhanden sind. Diese Voraussetzungen sind beispielsweise bei der Verbüßung einer Strafhaft in einer Justizvollzugsanstalt erfüllt.

2. Durch die Einfügung des § 7 Abs 4 S 2 SGB 2 idF vom 20.7.2006, nach dem der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung gleichgestellt wird, hat der Gesetzgeber eine Klarstellung vorgenommen, die auch zur Auslegung der Vorschrift vor dem Wirksamwerden der Änderung herangezogen werden kann (sog authentische Interpretation).

3. Für einen Strafhäftling im Maßregelvollzug in einer psychiatrischen Entziehungsanstalt findet der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 4 SGB 2 aF oder nF jedoch ab dem Zeitpunkt der Vollzugslockerung (zB Freigang) zur Arbeitsuche bzw -aufnahme und der vollschichtigen Verfügbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine Anwendung mehr.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 07.05.2009; Aktenzeichen B 14 AS 16/08 R)

 

Tenor

1.

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 21.03.2007 wird zurückgewiesen.

2.

Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zur erstatten.

3.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Streit.

Der Kläger befand sich im Anschluss an eine Haft seit dem 22.12.2003 im Maßregelvollzug im Zentrum für Psychiatrie R (ZPR) in therapeutischer Behandlung. Die Staatsanwaltschaft räumte dem Kläger am 02.05.2005 Vollzugslockerungen zur Arbeitssuche und Arbeitsaufnahme in K ein.

Daraufhin beantragte der Kläger am 11.05.2005 die Gewährung von Arbeitslosengeld II. Die Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 01.07.2005 ab, da der Kläger sich seit mehr als 6 Monaten in einer stationären Einrichtung im Sinne von § 7 Abs. 4 SGB II befinde und deswegen nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II sei.

Seinen Widerspruch begründete der Kläger damit, dass er bald aus der stationären Behandlung entlassen werde und jetzt bereits dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe. Im Übrigen stünden sechs andere Patienten des ZPR, die sich in einer vergleichbaren Situation befänden, im Leistungsbezug nach dem SGB II.

Mit Widerspruchsbescheid vom 04.08.2005 wies die Beklagte den Widerspruch aus den Gründen des Ablehnungsbescheides als unbegründet zurück. Der Kläger wurde hierbei auf Ansprüche nach dem SGB XII verwiesen.

Am 25.05.2005 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben. Wegen seiner Vollzugslockerungen stehe er trotz der Unterbringung nach § 64 Strafgesetzbuch (StGB) dem Arbeitsmarkt vollumfänglich zur Verfügung. Zudem bestünden auch aus medizinischer Sicht keine wesentlichen Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit, wozu er ein Attest seines Arztes Dr. M vom 09.05.2005 vorlegte. Zweck des SGB II sei die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Die Vollzugslockerung sei ihm auch gerade deshalb eingeräumt worden, damit er eine Arbeitsstelle finden könne. Zielsetzung sei die Integration in den Arbeitsmarkt und die gesellschaftliche Wiedereingliederung. Es sei auch bereits ein befristetes Arbeitsverhältnis abgeschlossen worden. Die ablehnende Haltung der Beklagten laufe diesen Zielsetzungen zuwider.

Am 15.11.2005 bezog der Kläger im Rahmen einer Belastungserprobung eine eigene Wohnung. Am 03.04.2006 wurde er aus dem ZPR entlassen. Seit dem 01.01.2006 bezieht der Kläger von der Beklagten Arbeitslosengeld II.

Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 21.03.2007 unter Aufhebung ihrer Ablehnungsbescheide verurteilt, dem Kläger vom 11.05.2005 bis zum 31.12.2005 Arbeitslosengeld II in gesetzlicher Höhe zu bewilligen. Der Kläger erfülle die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 SGB II. Der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 4 SGB II, wonach Leistungen nicht erhalte, wer für länger als 6 Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht sei, finde vorliegend keine Anwendung. Der Begriff einer stationären Einrichtung werde im SGB II nicht definiert. Die Regelung sei daher im Zusammenhang mit § 5 Abs. 2 SGB II und § 21 SGB XII zu interpretieren (unter Hinweis auf LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.03.2006 - L 8 AS 1171/06 ER-B). Da auch in stationären Einrichtungen Untergebrachte erwerbsfähig sein könnten, weil es nach der Definition der Erwerbsfähigkeit in § 8 Abs. 1 SGB II lediglich darauf ankomme, ob unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ein Leistu...

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