Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Opferentschädigung. möglicher sexueller Missbrauch in der Kindheit. Glaubhaftigkeit der Aussage. Erinnerungen erst nach therapeutischen Bemühungen. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Überprüfungsantrag

 

Leitsatz (amtlich)

1. Entsprechend dem Umfang des Vorbringens muss die Verwaltungsbehörde trotz schon einmal gestellten Überprüfungsantrags in eine erneute Prüfung der Sach- und Rechtslage eintreten und Antragstellende bescheiden.

2. Angaben der Opfer von tätlichen Angriffen erscheinen in der Regel nicht glaubhaft, wenn nicht auszuschließen ist, dass die Gedächtnisinhalte erst im Zusammenhang mit therapeutischen Bemühungen erzeugt worden sind.

 

Orientierungssatz

Eine aussagepsychologische Begutachtung kommt nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht, nämlich wenn dem Gericht die Sachkunde für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit fehlt. Die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens ist nur geboten, wenn der Sachverhalt oder die Aussageperson solche Besonderheiten aufweist, die eine Sachkunde erfordern, welche eine Richterin oder ein Richter normalerweise nicht haben (so auch LSG Stuttgart vom 21.4.2015 - L 6 VG 2096/13).

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 27. Oktober 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Die Klägerin wurde 1973 als Einzelkind geboren. Während eines dreimonatigen stationären Aufenthaltes in der M.-B.-Klinik in K., einer Fachklinik für Psychosomatik und Ganzheitsmedizin, Anfang 1998 beschrieb sie die Beziehung zur Mutter seit jeher als höchst ambivalent und von Abhängigkeit geprägt. Diese habe ihr Zuneigung und körperliche Nähe vorenthalten. Ihr Vater habe in ihrem Erleben zwischen äußerster Freundlichkeit bis hin zur Bösartigkeit sehr geschwankt, vor allem wenn er unter Alkoholeinfluss gestanden habe. Die Ehe der Eltern sei von häufigen Streitereien und Handgreiflichkeiten geprägt gewesen. Das Familienleben sei wegen der von ihren Eltern betriebenen Gaststätten sehr chaotisch gewesen. Sie habe als Mädchen immer das Gefühl gehabt, zu kurz zu kommen. Sie sei für ihre Mutter ein offensichtlich ungewolltes Kind gewesen und wegen deren Ausbildungsabsichten bereits nach der Geburt zu Pflegefamilien gegeben worden, wogegen sie sich zwar laut, aber erfolglos gewehrt habe. Im Alter von zwei Jahren fand die Klägerin den Nachbarn tot im Garten. Ein Jahr später erlebte sie den Suizidversuch ihres alkoholabhängigen depressiven Vaters mit. Als sie elf Jahre alt war, trennten sich ihre Eltern. Zwei Jahre später ließen sie sich scheiden (Entlassungsbericht vom 5. Mai 1998). Die Klägerin heiratete 2004 einen Mann, zu dem sie bereits seit 1998 eine Beziehung unterhielt.

Nach dem Hauptschulabschluss im Jahre 1990 besuchte sie erfolgreich die einjährige Hauswirtschaftliche Schule in B.. Anschließend leistete sie ein zweiwöchiges Praktikum in der Krankenpflege im Städtischen Krankenhaus in S.. Die im Oktober 1991 begonnene Ausbildung zur Krankenpflegehelferin in Düsseldorf brach sie bereits zum Jahresende aus gesundheitlichen Gründen ab. Nach zwei stationären Klinikaufenthalten in der neurologischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses S. von Ende Februar bis Mitte März 1992 und in der Psychotherapeutischen Klinik in S. von April bis September 1992 nahm sie eine Aushilfstätigkeit an, bevor sie im August 1993 einen einjährigen Grundbildungslehrgang für Jugendliche beim Berufsfortbildungswerk in S. belegte. Eine im September 1994 begonnene Ausbildung zur Kauffrau im Einzelhandel brach sie wiederum aus gesundheitlichen Gründen ab. Ab Januar 1997 war sie ein Jahr L. als Bürohilfskraft bei einer Hausverwaltung tätig. Die im September 1998 begonnene Ausbildung zur Bürokauffrau im Berufsbildungswerk N. schloss sie, unterbrochen durch einen stationären Klinikaufenthalt in der Fachklinik am H. in Wald-M., Ende August 2003 ab. Ab Mitte Mai 2004 wurde sie sechs Wochen zur Call-Center-Agentin ausgebildet, was sie anschließend bis Anfang August 2004 im Rahmen eines Praktikums ausübte. In der Folgezeit war sie arbeitsuchend. Anfang September 2010 war sie in den Arbeitsbereich. der Werkstatt für Menschen mit Behinderung in N. aufgenommen worden. Die Deutsche Rentenversicherung Bund gewährt ihr, nach vorherigen Befristungen, seit 1. März 2014 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze (Bescheid vom 4. Dezember 2013).

Zwischenzeitlich war sie von März 1993 bis Dezember 1997 von dem Dipl.-Psych. U. betreut worden, anfangs im Rahmen der Hilfe für junge Volljährige (§§ 27 ff. Kinder- und Jugendhilfegesetz - KJHG), später als Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung (§§ 39 ff. Bundessozialhilfegesetz - BSHG). Während dieser Zeit lebte sie bis Juli 1994 in einer Wohngemeinschaft der Einrichtung “Therapeutische Wohngemeinschaft...

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