Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Beitragshaftung. Unternehmer des Baugewerbes. Exkulpationsmöglichkeit gem § 28e Abs 3b S 2. kein eigenes Verschulden. Nachweis. Präqualifikation des Nachunternehmers. Vorlage einer qualifizierten Unbedenklichkeitsbescheinigung gem § 28e Abs f S 1 SGB 4. keine materielle Prüfpflicht des Auftraggebers

 

Orientierungssatz

1. Zur Rechtswidrigkeit eines Haftungsbescheids gegenüber einem Hauptunternehmer des Baugewerbes gem § 150 Abs 3 S 1 Alt 1 iVm § 28e Abs 3a S 1 Alt 1 SGB 4, wenn dieser sich gem § 28e Abs 3b S 2 iVm § 28e Abs 3f S 1 SGB 7 durch Vorlage einer qualifizierten Unbedenklichkeitsbescheinigung des zuständigen Unfallversicherungsträgers exkulpieren konnte.

2. Der Nachweis nach § 28e Abs 3b, Abs 3f SGB IV hängt nicht davon ab, dass der Unternehmer über die Vorlage der Unbedenklichkeitsbescheinigung hinaus nachweist, dass er die Vereinbarkeit der von der Beklagten erfassten und veranlagten Unternehmensteile mit dem auszuführenden Auftrag sowie der gemeldeten Arbeitsentgelte mit dem Volumen des Auftrags geprüft hat. Der Gesetzeswortlaut sieht eine solche Einschränkung nicht vor. Nach dem eindeutigen Wortlaut der einschlägigen Vorschriften lässt bereits die Vorlage der qualifizierten Unbedenklichkeitsbescheinigung die Haftung entfallen.

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 7. Februar 2022 und der Bescheid der Beklagten vom 15. Juli 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Oktober 2021 aufgehoben.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen.

3. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird endgültig auf 24.506,98 € festgesetzt.

4. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten im Streit ist ein gegenüber der Klägerin ergangener Haftungsbescheid für Beiträge der Nachunternehmerin S1 GmbH zur gesetzlichen Unfallversicherung in Höhe von insgesamt 24.506,98 €.

Die Klägerin ist ein Unternehmen des Baugewerbes. Sie beauftragte das Unternehmen S1 GmbH als Auftragnehmerin/Nachunternehmerin mit der Ausführung verschiedener Bauleistungen, die im Zeitraum von Juni 2017 bis Februar 2018 ausgeführt wurden.

Im Einzelnen handelt es sich um folgende Bauvorhaben:

1. Bauvorhaben Messe F1 beauftragt durch schriftlichen Nachunternehmervertrag vom 13.02.2017, Nettoauftragswert 608.824,07 € (ohne spätere Preisnachlässe zunächst vereinbart: 676.471,19 €), Ausführungszeitraum Juni bis Oktober 2017

2. Bauvorhaben F5 V1

- Gebäude F3 + F4, beauftragt durch schriftlichen Nachunternehmervertrag vom 09.06.2017, Nettoauftragswert 284.116,42 € (ohne spätere Preisnachlässe zunächst vereinbart: 296.009,69 €), Ausführungszeitraum Juni 2017 bis Februar 2018

- Gebäude A3 + B3, beauftragt durch schriftlichen Nachunternehmervertrag vom 09.06.2017, Nettoauftragswert 284.116,42 € (ohne spätere Preisnachlässe zunächst vereinbart: 296.009,69 €), Ausführungszeitraum August 2017 bis Februar 2018

- Gebäude F1 + F2, mündlich beauftragt im Juni 2017 ohne schriftliche Fixierung des Vertrages, Nettoauftragssumme 2.749,95 €, Ausführungszeitraum 28.06. bis 30.08.2017

- Gebäude A2 + B2, mündlich beauftragt im Juni 2017 ohne schriftliche Fixierung des Vertrages, Nettoauftragssumme 4.816,05 €, Ausführungszeitraum 28.06. bis 30.08.2017

- Gebäude F1 + F2, mündlich beauftragt im November 2017 ohne schriftliche Fixierung des Vertrages, Nettoauftragssumme 1.396,80 €, Ausführungszeitraum 11.11. bis 20.12.2017.

Die Auftragnehmerin führte die Aufträge durch, befand sich aber in der Folgezeit bei der Ausführung aller Bauvorhaben - bis auf die letztgenannten drei Verträge - in Verzug. Bei den Bauvorhaben F5 F3 + F4 und F5 A3 + B3 kam es nicht zur Fertigstellung der Bauvorhaben durch die Nachunternehmerin, worauf die Klägerin beide Nachunternehmerverträge mit Schreiben vom 06.03.2018 außerordentlich kündigte.

Die Beklagte erließ gegen die Auftragnehmerin unter dem 25.04.2018 einen Beitragsbescheid für das Jahr 2017 über 39.202,21 €. Diese kam ihrer Zahlungsverpflichtung gegenüber der Beklagten aber nicht nach. Der Geschäftsbetrieb der Auftragnehmerin wurde zum 31.05.2018 eingestellt. Mit Beschluss vom 01.08.2018 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Auftragnehmerin eröffnet (Amtsgericht Esslingen, Az. 11 IN 262/18).

Mit Schreiben vom 29.01.2021 informierte die Beklagte die Klägerin über ein eingeleitetes Ermittlungsverfahren wegen einer Beitragshaftung als Auftraggeberin aufgrund rückständiger Beiträge der insolventen Auftragnehmerin und forderte diese zur Vorlage der zwischen ihr und der Auftragnehmerin vorhandenen Vertragsunterlagen, der Abschlags- und Schlussrechnungen sowie Unterlagen zur Auftragsvergabe sowie einem lückenlosen Nachweis der Präqualifikation bzw. qualifizierten Unbedenklichkeitsbescheinigungen auf. Mit E-Mail vom 22.03.2021 übersandte die Klägerin der Beklagten die Verhandlungsprotokolle, Vertragsunterlagen und Rechnungen der Auftragnehmerin, getrennt nach den einzelnen Bauvorhab...

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