Entscheidungsstichwort (Thema)

Betrug. Pflichtverteidigergebühren und Auslagen. Teilnahme an Explorationsgespräch. Voraussetzungen der Schuldfähigkeit. Unterbringung in psychiatrischem Krankenhaus. Analoge Anwendung einer Gebührenvorschrift. Ausfüllungsbedürftige Regelungslücke. Kein allgemeines Analogieverbot. Sachgerechte Verteidigung. Möglichst frühzeitige Einbindung des Rechtsanwalts. Keine Tätigkeit des Rechtsanwalts ist unentgeltlich. Teilnahme an Explorationsgespräch derjenigen bei der Teilnahme an anderen in Nr. 4102 VV RVG ausdrücklich geregelten Terminen außerhalb der Hauptverhandlung vergleichbar. Lückenschließung im Wege der Rechtsanalogie

 

Leitsatz (redaktionell)

  • Einem gerichtlich bestellten Pflichtverteidiger steht für die Teilnahme an einem Explorationsgespräch, bei dem die Schuldfähigkeit und die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus seines Mandanten durch einen psychiatrischen Sachverständigen festgestellt werden sollte, eine Gebühr analog Nr. 4102 VV RVG zu.
  • Die analoge Anwendung einer Gebührenvorschrift setzt eine Lücke im Sinn einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus. Zwar sieht Nr. 4102 Nr. 1 VV RVG keine Vergütung für die Teilnahme an einem Explorationsgespräch vor. Es handelt sich aber um eine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke, da der Gesetzgeber die Teilnahme des Verteidigers an Explorationsterminen übersehen und deswegen nicht geregelt hat. Dem Anwalt sollte es auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bereits im Stadium des Ermittlungsverfahrens möglich werden, einem Strafverfahren durch entsprechendes Engagement zu einem zügigen Abschluss zu verhelfen.
 

Normenkette

VV RVG Nrn. 4102, 1; BRAGO § 2; StGB § 168b Abs. 1, § 63

 

Tenor

Der weitergehenden Erinnerung wird nicht abgeholfen.

 

Tatbestand

I.

Nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens beantragte der gerichtlich bestellte Pflichtverteidiger am 10.02.2006 die Festsetzung der ihm entstandenen Pflichtverteidigergebühren und Auslagen in Höhe von insgesamt 3.014,78 EUR inklusive MWSt. U.a. machte er eine Terminsgebühr nach Nr. 4102 Nr. 1 VV RVG für die Teilnahme an dem Explorationsgespräch geltend, das der im Vorverfahren mit der Begutachtung der Voraussetzungen der Schuldfähigkeit und einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. §§ 20, 21, 63 StGB beauftragte psychiatrische Sachverständige am 12.08.2005 mit dem damals noch Beschuldigten geführt hat. Nach Anhörung des Vertreters der Staatskasse setzte die Rechtspflegerin des Landgerichts Offenburg durch Beschluss vom 29.03.2006 die zu erstattende Vergütung auf brutto 2.800,93 EUR fest. Abgezogen wurde neben eines geringfügigen Betrages wegen zuviel geltend gemachten Auslagen für Fotokopien insbesondere die Terminsgebühr nach Nr. 4102 Nr. 1 VV RVG für die Teilnahme an dem Explorationsgespräch mit dem psychiatrischen Sachverständigen in Höhe von 140,00 EUR zuzüglich Mehrwertsteuer, insgesamt somit 162,40 EUR.

Gegen diesen Kostenfestsetzungsbeschluss richtet sich die am 04.04.2006 eingegangene Erinnerung des Verteidigers. Zwar sehe Nr. 4102 Nr. 1 VV RVG keine Vergütung für die Teilnahme an einem Explorationsgespräch vor. Hierbei handele es sich aber um eine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke. Der Gesetzgeber habe die Teilnahme des Verteidigers an Explorationsterminen übersehen und deswegen nicht geregelt. Die Tätigkeit sei vergleichbar mit richterlichen Vernehmungen und Augenscheinseinnahmen sowie mit Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft. Der Vertreter der Staatskasse sieht dagegen weder eine Gesetzeslücke noch die Befugnis der Strafkammer, eine solche zu füllen.

Nach Anhörung des Vertreters der Staatskasse hat die Rechtspflegerin mit Beschluss vom 06.04.2006 der Erinnerung nicht abgeholfen und die Angelegenheit gemäß § 56 Abs. 1 RVG zur Entscheidung vorgelegt.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Erinnerung ist gemäß § 56 Abs. 1 RVG zulässig. Auf die Streitfrage, ob hierfür eine Frist von zwei Wochen gilt (dafür Gerold/Schmidt/van Eicken/Madert/Müller-Raabe, RVG, 16. Aufl., § 204, § 56, Rdn. 5; dagegen Riedl/Susbauer/Schmal, RVG, 9. Aufl., 2005, Rdn. 5), kommt es vorliegend nicht an, da die Erinnerung jedenfalls innerhalb von zwei Wochen nach Zugang beim Verteidiger eingelegt wurde.

Gemäß § 56 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 i.V.m. § 33 Abs. 4 S. 1 RVG ist das Landgericht Offenburg nach erfolgter Nichtabhilfeentscheidung des Rechtspflegers zur Entscheidung über die Erinnerung zuständig.

III.

Die Erinnerung ist auch überwiegend begründet. Dem Pflichtverteidiger steht analog Nr. 4102 VV RVG die geltend gemachte Gebühr inklusive MWSt. in der aus dem Tenor erkennbaren Höhe zu.

1. Gemäß Nr. 4102 VV RVG entsteht eine Terminsgebühr in Höhe von 112,00 EUR (bei inhaftiertem Beschuldigten: 137,00 EUR, Nr. 4103 VV RVG) für den Pflichtverteidiger, der an

1. richterlichen Vernehmungen und Augenscheinseinnahmen,

2. Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft oder einer anderen Strafverfolgungsbehörde,

3. Terminen außerhalb der Hauptverhandlung, in denen über die Anordnung ode...

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