Entscheidungsstichwort (Thema)

Amtshaftungsanspruch: Verletzung der Menschenwürde durch Androhung von Schmerzzufügung in polizeilichem Verhör

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Androhung von Schmerzzufügung während einer polizeilichen Vernehmung zur Erreichung der Preisgabe von Informationen stellt einen schweren Eingriff in die Menschenwürde des Betroffenen nach Art. 1 Abs. 1 GG dar und verletzt das Verbot der unmenschlichen Behandlung nach Art. 3 EMRK. Diese Behandlung ist grundsätzlich geeignet, einen hinreichend schwerwiegenden Eingriff im Rahmen des Anspruchs auf Geldentschädigung gemäß Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB, Art. 34 GG darzustellen.

2. Ob eine schwere Verletzung der Menschenwürde durch anderweitige Maßnahmen als die Zuerkennung einer Geldentschädigung ausgeglichen werden kann, bemisst sich nach den Umständen des Einzelfalls. Es ist eine Abwägung vorzunehmen, in der die mögliche Genugtuungsfunktion einer strafrechtlichen Verurteilung, die Nichtverwertung von Aussagen, die außergewöhnliche Bedeutung und Tragweite des Eingriffs, Anlass und Beweggrund der Handelnden sowie der Grad ihres Verschuldens zu berücksichtigen sind. Weiterhin ist hierbei die Beurteilung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in gleicher Sache nach Art 46 Abs. 1 EMRK zu berücksichtigen.

3. Für die Höhe der Geldentschädigung sind die Motivation der handelnden Beamten, das Verhalten des Klägers, die Dauer des Eingriffs sowie die Frage der konkreten Umsetzung der Androhung und bereits erfolgte Ausgleichsmaßnahmen zu berücksichtigen.

 

Normenkette

BGB § 839 Abs. 1; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 34, 104 Abs. 1 S. 2; EMRK Art. 3, 46 Abs. 1; StGB § 357 Abs. 1; ZPO § 287

 

Nachgehend

OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 10.10.2012; Aktenzeichen 1 U 201/11)

 

Tenor

1. Das beklagte Land wird verurteilt, an den Kläger 3.000 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21.1.2009 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 4/5 und das beklagte Land 1/5 zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für den Kläger nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils vollstreckbaren Betrags. Der Kläger darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht das beklagte Land vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

 

Tatbestand

Der Kläger nimmt das beklagte Land auf materiellen und immateriellen Schadensersatz bzw. Geldentschädigung sowie auf Feststellung seiner Einstandspflicht wegen behaupteter Amtspflichtverletzung im Rahmen des gegen ihn geführten polizeilichen Ermittlungsverfahrens in Anspruch.

Der Kläger lockte am 27.9.2002 den 11-jährigen Bankierssohn M. in seine Wohnung und erstickte ihn. In der Nacht vom 29. auf den 30.9.2002 holte er das von den Eltern des Jungen geforderte Lösegeld ab. Seitdem stand er unter lückenloser polizeilicher Kontrolle. Nachdem der Kläger keinerlei Opferbetreuungsmaßnahmen zeigte oder Kontakt zu weiteren möglichen Tatbeteiligten suchte, wurde er am Nachmittag des 30.9.2002 im Beisein seiner damaligen Freundin durch ein mobiles Einsatzkommando festgenommen. Dabei wurde er unter Anwendung einfacher körperlicher Gewalt zu Boden gebracht und fixiert. Anschließend wurde er in das Polizeipräsidium Frankfurt am Main verbracht. Dort erhielt er nach Sicherstellung seiner privaten Kleidungsstücke und Schuhe einen Einwegoverall und blaue Fußüberzieher. Die Leitung des Polizeipräsidiums oblag dem damaligen Polizeivizepräsidenten D. als stellvertretendem Behördenleiter für den sich im Urlaub befindlichen Polizeipräsidenten.

Während der Vernehmung durch die Polizei fragte der Kläger nach anwaltlichem Beistand, beantwortete aber weiter gestellte Fragen. Er behauptete zunächst, mit der Entführung nichts zu tun zu haben. Ein Unbekannter habe ihm Geld für die Lösegeldabholung angeboten. Dann machte er aber Angaben zur Abholung des Geldes und zu seinem Verhalten danach. Zum Verbleib des Jungen sagte er nichts. Währenddessen fanden Polizeibeamten in der Wohnung des Klägers einen Teil des Lösegelds und einen Zettel, auf dem in einer Art Check-Liste einzelne Punkte der Tatvorbereitung aufgelistet waren.

Auf Bitte des Klägers, einen Anwalt zu konsultieren, wurde der Anwaltsnotdienst verständigt. Im Laufe der weiteren Vernehmung hatte der Kläger von 23:40 Uhr bis 24:00 Uhr die Möglichkeit, mit Rechtsanwalt Z. zu sprechen. Anschließend wurde er weiter bis etwa 1.00 Uhr nachts befragt. Eine wahrheitsgemäße Aussage über den Verbleib des Jungen machte der Kläger nicht. Stattdessen behauptete er, der Junge lebe und werde in einer Hütte am Langener Waldsee von zwei ihm bekannten Brüdern festgehalten. Diese Aussage führte zu bis in den Morgen hinein dauernden Durchsuchungen der Wohnungen der Brüder, ihrer vorläufigen Festnahme und zu umfangreichen polizeilichen Aktivi...

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