Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung wegen sexueller Belästigung. Sexuelle Belästigung nach AGG als wichtiger Grund nach § 626 Abs. 1 BGB. Beginn der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB. Vollständigkeit der Betriebsratsanhörung ohne Vorlage des Rapportbuchs

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine sexuelle Belästigung im Sinne des § 3 Abs. 4 AGG ist ein wichtiger Grund nach § 626 Abs. 1 BGB.

2. Küssen und das Greifen unter das T-Shirt stellen eine unerwünschte sexuell bestimmte Verhaltensweise dar.

3. Dem Arbeitgeber, der Schutzpflichten gegenüber allen Mitarbeitern hat, ist es wegen der Wiederholungsgefahr einer sexuellen Belästigung nicht zuzumuten, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen.

4. Die Kündigungserklärungsfrist nach § 626 Abs. 2 BGB beginnt mit der zumutbaren Kenntnis maßgeblicher Tatsachen.

 

Normenkette

AGG § 3 Abs. 3-4; BetrVG § 102 Abs. 1 Sätze 1-3; BGB § 626 Abs. 1, 2 Sätze 1-2; ZPO § 286 Abs. 1 S. 1, § 97 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Ludwigshafen (Entscheidung vom 13.07.2020; Aktenzeichen 2 Ca 1105/19)

 

Tenor

  • I.

    Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen - 2 Ca 1105/20 - vom 13. Juli 2020 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

  • II.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen und zwei hilfsweise ordentlicher Kündigungen der Beklagten, die dem Kläger sexuelle Belästigung einer Kollegin vorwirft, und um einen Weiterbeschäftigungsanspruch des Klägers.

Der 1960 geborene, verheiratete und drei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit 02. April 1979 bei der Beklagten bzw. ihren Rechtsvorgängern zuletzt als Industriemeister Chemie in Wechselschicht beschäftigt. Er wird von der Beklagten, einem Chemiekonzern mit weit mehr als 10 Beschäftigten mit Ausnahme der Auszubildenden, als Schichtführer der Schicht A in der Zwipro-Destillation in B-Stadt eingesetzt. Im dortigen Betrieb ist ein Betriebsrat gewählt.

Nach Abschluss ihrer Ausbildung bei der Beklagten ist seit 31. Januar 2019 auch die Zeugin E. in der Zwipro-Destillation beschäftigt, nachdem sie bereits während ihrer Ausbildung bei der Beklagten von März 2018 bis Januar 2019 einen sog. Durchlauf in der Schicht des Klägers hatte. Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Kläger die Zeugin E. während ihrer Ausbildungszeit in seiner Schicht ohne Notwendigkeit angefasst, beispielsweise den Arm um ihre Taille gelegt oder die Hand auf ihren Oberschenkel gelegt hat, wenn sie nebeneinandersaßen. Die Zeugin E. hat den Kläger jedenfalls nicht aufgefordert, ein derartiges Verhalten zu unterlassen und hat keinen Vorgesetzten bei der Beklagten informiert.

Am Samstag, den 15. Juni 2019, war die Zeugin E. ua. mit dem Kläger zusammen in der Schicht eingeteilt. Die Zeugin E. und der Kläger gingen zur Behebung eines von der Zeugin E. im Erdgeschoss zu lösenden technischen Problems gemeinsam auf das Dach des Gebäudes C 515. Ob dies am Vormittag der Fall war oder am Nachmittag und ob der Kläger im Anschluss mit der Zeugin E. in den Keller zu den Flusswasserpumpen ging und dort versuchte, sie gegen ihren Willen zu küssen und seine Hand unter ihr T-Shirt schob, ist zwischen den Parteien streitig. Die Zeugin E. war von Montag, den 17. Juni 2019 bis Freitag, den 28. Juni 2019 arbeitsunfähig erkrankt.

Am 05. Juli 2019 wandte sich die Zeugin E. an die Betriebsleiterin des Nachbarbetriebes Z. und gab an, am 15. Juni 2019 nachmittags vom Kläger im Keller des Gebäudes C 515 sexuell belästigt worden zu sein. Am 09. Juli 2019 meldete die Zeugin E. dies auch dem Betriebsleiter ihres eigenen Betriebes Dr. Y.. Am gleichen Tag wurde der Ermittlungsdienst der Beklagten eingeschaltet, der die Zeugin E. am 10. Juli 2019, sowie am 17. Juli 2019 befragte. Wegen der Einzelheiten ihrer Aussagen wird auf Bl. 253 f. und Bl. 266 f. d. A. Bezug genommen. Der am 16. Juli 2019 durch den Ermittlungsdienst befragte Kläger, der von der Beklagten am 10. Juli 2019 von seiner Arbeitsleistung freigestellt worden war, bestritt die Vorwürfe und räumte lediglich einen freundschaftlichen Umgang mit der Zeugin ein, bei dem es auch zu lockeren Berührungen an der Schulter gekommen sein könne; er sei jedoch am 15. Juni 2019 nicht nachmittags mit der Zeugin E. im Keller des Gebäudes C 515 gewesen, sondern lediglich am Vormittag mit ihr auf dem Dach. Wegen der weiteren Einzelheiten des Inhalts der Aussage des Klägers wird auf Bl. 261 f. d. A. verwiesen. Der Ermittlungsdienst der Beklagten vernahm des Weiteren die Mitarbeiter der Zwipro-Destillation X. (Bl. 255 f. d. A.) und W. (Bl. 258 d. A.) und (den ehemaligen Partner der Zeugin E.) V. (Bl. 259 f. d. A.), sowie den Mitarbeiter der Zwipro-Destillation G. (Bl. 257 d. A.), der von Ende März bis Juli 2019 mit der Zeugin E. liiert war und bezüglich dessen das Rapportbuch der Schicht (Bl. 179 f. d. A.). gemeinsame "Rundgänge nach Checkliste" mit der Zeugin E. um 7.00 Uhr, 12.30 Uhr und 15.30 Uhr...

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