Entscheidungsstichwort (Thema)

Unwirksame außerordentliche Kündigung wegen sexueller Belästigung unter Alkoholeinfluss bei überwiegendem Interesse des Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei der Prüfung, ob der Arbeitgeberin eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse der Arbeitgeberin an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen einstweiliger Fortsetzung bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist abzuwägen; es hat eine Bewertung des Einzelfalles unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen.

2. Verletzt der Arbeitnehmer seine arbeitsvertraglichen (Neben-) Pflichten (§ 241 Abs. 1 und Abs. 2 BGB, §§ 3 Abs. 4, 7 Abs. 3 AGG) in erheblicher Weise, in dem er eine von der Arbeitgeberin berauftragte externe Referentin massiv sexuell belästigt, ist dem Interesse der Arbeitgeberin, eine Wiederholung eines solchen Vorfalls und eine damit eventuell einhergehende Rufschädigung zu verhindern, erhebliches Gewicht beizumessen; das Interesse des Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes ist jedoch aufgrund der Umstände des Einzelfalles höher anzusetzen, wenn das Arbeitsverhältnis über 22 Jahre beanstandungsfrei verlaufen ist, die schwerwiegende Pflichtverletzung als einmalige Entgleisung unter Alkoholeinfluss gewertet werden kann und mit weiteren derartigen schwerwiegenden Pflichtverletzungen deshalb nicht gerechnet werden muss, weil der Arbeitnehmer sich noch am gleichen Tag in ärztliche Behandlung begeben und sich um eine stationäre Therapie bemüht hat.

3. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist die Arbeitgeberin in der Regel verpflichtet, einem alkoholkranken Arbeitnehmer, dem sie aus personenbedingten Gründen kündigen will, zuvor eine Chance zur Entziehungskur zu geben.

 

Normenkette

AGG §§ 1 ff.; BGB § 626; AGG § 3 Abs. 4, § 7 Abs. 3; BGB § 241 Abs. 1-2, § 626 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Ludwigshafen (Entscheidung vom 01.07.2015; Aktenzeichen 8 Ca 2279/14)

 

Tenor

  1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom 01.07.2015, Az: 8 Ca 2279/14, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
  2. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien des vorliegenden Rechtsstreits streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung der Beklagten vom 18.12.2014 wegen sexueller Belästigung unter Alkoholeinfluss.

Der 1968 geborene Kläger ist geschieden, einem Kind unterhaltsverpflichtet und bei der Beklagten seit dem 01.10.1992 als Chemiefacharbeiter zu einer Bruttomonatsvergütung von zuletzt 3.467,20 EUR beschäftigt. Bei der Beklagten sind mehr als 10 Arbeitnehmer beschäftigt; es besteht ein Betriebsrat.

Am 26.09.2012 war der Kläger zu einem Fehlzeitengespräch von der Beklagten geladen worden. Dabei räumte er ein, dass bei ihm eine Alkoholerkrankung vorliegt. Das Gesprächsprotokoll, das insoweit gefertigt wurde, hat unter anderem folgenden Wortlaut:

"Herr A. wurde darauf hingewiesen, dass er zu den Ursachen seiner krankheitsbedingten Fehlzeiten keine Aussagen machen muss, er diese jedoch freiwillig tätigen kann. Herr A. wurde ebenso darauf hingewiesen, dass seine freiwillig getätigten Aussagen in einer Gesprächsnotiz festgehalten werden, ihm eine Kopie der Gesprächsnotiz ausgehändigt werden wird und er sich mit seiner Unterschrift auf der Einwilligungserklärung mit der Dokumentation und der Speicherung in dem dafür vorhandenen IT-System einverstanden zeigt. Herr A. zeigte sich mit der beschriebenen Verfahrensweise einverstanden.

Bei Herrn A. liegt eine Alkoholerkrankung vor. Er war bereits zweimal auffällig und wurde in Gesprächen am 11.08.2011 und am 09.05.2012 dazu gehört und es wurde Herrn A. Hilfsangebote unterbreitet. Herr A. lehnte die Hilfsangebote von Seiten der B. ab und berichtete, dass er seine Suchterkrankung "im Griff" habe. Er sei durch eine Hypnosebehandlung von seiner Sucht befreit worden. Auf die Frage, ob es sonst noch Probleme im persönlichen Bereich gebe, gab Herr A. an, dass er weder finanzielle noch sonstige Probleme habe. Er habe sich zwar von seiner Freundin getrennt und sei auch von ihr weggezogen, aber dies stelle für ihn kein Problem dar.

Jetzt aktuell hat Herr A. seinen Autoführerschein, bedingt durch Alkoholkonsum, verloren.

Herr A. gab zwar im Gespräch eine "Begründung" für den Verlust des Führerscheines an und betonte, dass er weiterhin seine Alkoholerkrankung im Griff habe, doch die B. muss hier handeln.

Es wurden folgende Punkte mit Herrn A. vereinbart:

- Herr A. wechselt ab 01.10.2012 von A zu B (mit Ausgleichszahlung von der B.XY)

- Herr A. wird sich mit Frau Z. (Fachärztin der med. Abteilung) in Verbindung setzen und dort regelmäßig Kontakt halten

- Herr A. wird sich Alkoholuntersuchungen in unregelmäßigen Abstände...

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