Entscheidungsstichwort (Thema)

Geschlechtsbezogene Benachteiligung bei der Entlohnung von Frauen und Männern. Anpassung der Vergütung "nach oben" bei jahrelanger Benachteiligung von Arbeitnehmerinnen in der Schuhproduktion. Differenzlohnklage bei unzureichenden Darlegungen der Arbeitgeberin zur verjährungsbegründenden Kenntnis der maßgeblichen Umstände

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Nach der Wertung des § 2 Abs. 1 Nr. 2 und § 8 Abs. 2 AGG ist bei einer gesetzwidrigen Benachteiligung eine Grundlage für Ansprüche auf gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeiten gegeben; auch der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz gibt benachteiligten Arbeitnehmerinnen einen Anspruch auf die Leistungen, die ihnen aufgrund ihres Geschlechts vorenthalten wurden, so dass die Beseitigung der Benachteiligung bei der Entgeltzahlung nur durch eine "Anpassung nach oben" erfolgen kann.

2. Der Leistungsanspruch auf benachteiligungsfreie Entlohnung ist ein Erfüllungsanspruch und kein Schadensersatzanspruch; für Ansprüche aus § 7 Abs. 1 AGG auf Erfüllung derjenigen Ansprüche, die der begünstigten Gruppe gewährt wurden, gilt die Verfallsregelung des § 15 Abs. 4 AGG nicht.

3. Die nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB erforderliche positive Kenntnis von den einen Anspruch auf Nachzahlung von Arbeitsvergütung wegen geschlechtsbezogener Benachteiligung begründenden Umständen hat eine Arbeitnehmerin auch unter Berücksichtigung der Beweislastregel des § 22 AGG dann, wenn sie weiß, dass ihre Arbeitgeberin die bei ihr beschäftigten Frauen generell schlechter vergütet als die Männer; nicht ausreichend ist insoweit die Kenntnis davon, dass etwa nur eine begrenzte Anzahl der in der Produktion beschäftigten Männer eine höhere Arbeitsvergütung erhalten als einzelne oder mehrere mit vergleichbaren Arbeitstätigkeiten betraute Frauen, da sich hieraus noch nicht der Rückschluss ziehen lässt, dass die unterschiedliche Vergütung zwischen Männern und Frauen auf einem generalisierenden Prinzip beruht.

4. Im Hinblick auf die gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB erforderliche positive Kenntnis der Arbeitnehmerin von den einen Anspruch auf Nachzahlung von Arbeitsvergütung wegen geschlechtsbezogener Benachteiligung begründenden Umständen hat die darlegungs- und beweisbelastete Arbeitgeberin im Einzelnen darzulegen und im Streitfall zu beweisen, aufgrund welcher konkreten Gespräche, Erklärungen, Ereignisse oder sonstigen Umständen gerade (auch) die Arbeitnehmerin positive Kenntnis davon erlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen, dass die im Betrieb beschäftigten Frauen bei gleicher Arbeit generell eine geringere Vergütung erhalten als Männer.

 

Normenkette

AGG § 15 Abs. 4, § 7 Abs. 1; ZPO § 199 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4; AGG § 2 Abs. 1 Nr. 2, § 8 Abs. 2, § 22

 

Verfahrensgang

ArbG Koblenz (Entscheidung vom 08.07.2015; Aktenzeichen 11 Ca 3724/13)

 

Tenor

  1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 8. Juli 2015, Az. 11 Ca 3724/13, abgeändert und die Beklagte unter Aufhebung des Versäumnisurteils vom 10. September 2014 verurteilt, an die Klägerin € 14.475,48 brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 10. August 2013 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
  2. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
  3. Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz haben die Klägerin zu 65 % und die Beklagte zu 35 % zu tragen. Von den Kosten zweiter Instanz hat die Klägerin 15 % und die Beklagte 85 % zu tragen.
  4. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über Differenzlohnansprüche der Klägerin wegen Benachteiligung aufgrund ihres Geschlechts.

Die Beklagte stellt Schuhe her. Die am 11.01.1953 geborene Klägerin ist bei ihr seit 01.08.1994 als Produktionsmitarbeiterin beschäftigt. Die Beklagte zahlte bis 31.12.2012 den in der Produktion beschäftigten Frauen bei gleicher Tätigkeit einen geringeren Stundenlohn als den Männern. Die Klägerin erhielt seit 01.01.2002 einen Stundenlohn von € 8,45 und seit 01.01.2004 einen Stundenlohn von € 8,61. Demgegenüber belief sich der Stundenlohn der Männer, die mit der gleichen Arbeit wie die Klägerin betraut waren, seit 01.01.2002 auf € 9,56 und seit 01.01.2004 auf € 9,66. Ein diese Ungleichbehandlung rechtfertigender Grund bestand unstreitig nicht. Auch die Anwesenheitsprämie (5 % des Bruttolohns) sowie das Weihnachtsgeld (Berechnungsformel: 172 Stunden x Stundengrundlohn x 40 %) und das Urlaubsgeld (Berechnungsformel: 28 Tage x Stundengrundlohn x 8 Stunden x 46,5 %) berechnete die Beklagte für die bei ihr beschäftigten Frauen bis zum 31.12.2012 auf der Grundlage der niedrigeren Stundenlöhne.

Die geschlechtsbezogene Ungleichbehandlung von Frauen und Männern bei der Entlohnung (jedenfalls für die Zeit ab 01.01.2009) ist der Klägerin spätestens seit einer Betriebsversammlung, die im September 2012 stattfand, bekannt. Ob die Klägerin bereits seit einem früheren Zeitpunkt von dieser Ungleichbehandlung Kenntnis hatte, ist zwischen den Parteien streitig.

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