Entscheidungsstichwort (Thema)

Fristwahrende Kündigungsschutzklage gegen nacheinander an einem Tag zugestellte außerordentliche Verdachts- und Tatkündigung. Ordentliche Kündigung eines schwerbehinderten Physiotherapeuten bei vorsätzlichen Verstößen gegen die Erfassung der Arbeitszeit

 

Leitsatz (amtlich)

Erklärt der Arbeitgeber an einem Tag in zwei getrennten Schreiben sowohl eine fristlose Verdachtskündigung, als auch eine fristlose Tatkündigung, die dem Arbeitnehmer durch Boten zeitgleich in einem Umschlag zugehen, wahrt eine innerhalb der Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG erhobene Klage gegen die Tatkündigung auch die Klagefrist für die Verdachtskündigung (im Anschluss an BAG 18.12.2014 2 AZR 163/14).

 

Normenkette

BGB § 626; KSchG §§ 4, 6-7; BGB § 314 Abs. 2, § 626 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 2, § 4 S. 1; SGB IX § 85

 

Verfahrensgang

ArbG Mainz (Entscheidung vom 06.11.2014; Aktenzeichen 7 Ca 280/14)

 

Tenor

  1. Auf die Berufung der Beklagten wird unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz - Auswärtige Kammern Bad Kreuznach - vom 6. November 2014, Az. 7 Ca 280/14, abgeändert und wie folgt neu gefasst:

    Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die fristlosen Kündigungen der Beklagten vom 28. März 2014 aufgelöst worden ist.

    Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

  2. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
  3. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von fristlosen, hilfsweise ordentlichen Tat- und Verdachtskündigungen der Beklagten.

Der 1975 geborene Kläger (verheiratet, zwei Kinder) war seit 16.06.2008 bei der Beklagten als Physiotherapeut zu einer Bruttomonatsvergütung von zuletzt € 2.391,91 beschäftigt. Beim Kläger ist aufgrund einer schweren Sehbeeinträchtigung ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen "G", "B", "H" und "RF" festgestellt. Die Beklagte beschäftigt in ihrer Klink in B-Stadt ca. 200 Arbeitnehmer; es besteht ein Betriebsrat. Die regelmäßige Arbeitszeit des Klägers betrug 38,5 Wochenstunden. Seine Arbeitszeit, die um 07:00 Uhr begann, wurde mit einer elektronischen Stechuhr erfasst.

Die Beklagte gehört zur X-Gruppe. Zu dieser Gruppe gehört auch das Gesundheitsstudio "X Y Z" in B-Stadt, das ua. von Physiotherapeuten betreutes Gerätetraining ambulant anbietet. Seit 01.05.2013 ging der Kläger mit Genehmigung der Beklagten einer Nebentätigkeit in diesem Studio nach. Er schloss mit der X. Holding GmbH einen Arbeitsvertrag für geringfügig Beschäftigte als Aufsicht/Therapeut mit einer Arbeitszeit von maximal 28 Monatsstunden zu einer Stundenvergütung von € 16,00 brutto/netto. Der Fußweg zwischen Klinik und Studio beträgt ca. drei Minuten.

Seit Oktober 2013 arbeitete der Kläger im Einverständnis mit seinem Vorgesetzten montags, mittwochs und freitags in der Regel von 10:00 bis 12:00 Uhr im Gesundheitsstudio. Er hatte beim Verlassen der Klinik die Stempeluhr zu betätigen (Gehen-Buchung) und bei seiner Rückkehr (Kommen-Buchung) erneut zu stempeln. Die Arbeitszeit im Studio trug der Kläger manuell in Stundennachweise ein. In der ersten Märzwoche 2014 kam der Verdacht auf, dass der Kläger beim Verlassen der Klinik, um seiner Nebentätigkeit nachzugehen, mehrfach die Stechuhr nicht betätigt haben könnte. Außerdem bestand der Verdacht, dass er im Gesundheitsstudio die Stundennachweise nicht wahrheitsgemäß ausgefüllt haben könnte. Ein Abgleich der Daten des Zeiterfassungssystems der Beklagten mit den im Studio geführten Stundennachweisen ergab, dass der Kläger an folgenden Tagen die Arbeitsunterbrechung bei der Beklagten nicht gestempelt hat:

Datum

Studiodienst laut

Fehlzeit ohne Stechuhr

02.01.2014

10:00 - 12:00 h

120 Min.

17.01.2014

10:00 - 11:30 h

90 Min.

14.02.2014

10:00 - 12:00 h

120 Min.

26.02.2014

10:00 - 12:00 h

120 Min.

03.03.2014

10:00 - 12:00 h

120 Min.

04.03.2014

10:00 - 12:00 h

120 Min.

Darüber hinaus stimmten an mehreren Tagen die Daten der Zeiterfassung bei der Beklagten nicht mit den Stundennachweisen des Studios überein, beispielsweise am 27.12.2013 wie folgt:

Datum

Studiodienst laut

Zeiterfassung laut

27.12.2013

10:00 - 11:30 h

09:42 h Gehen11:08 h Kommen

Am 07.03.2014 führte der Vorstand der Beklagten ein Gespräch mit dem Kläger. Zum Teilnehmerkreis gehörte ua. der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende, der auch stellvertretender Schwerbehindertenvertreter ist. Der Vorstand konfrontierte den Kläger mit dem Vorwurf, dass er seit Oktober 2013 wiederholt seiner Nebentätigkeit im Gesundheitsstudio nachgegangen sei, ohne die erforderliche Gehen-Buchung von seiner Hauptbeschäftigung vorzunehmen. Im Gesprächsprotokoll ist ua. folgendes vermerkt:

"Herr A. gibt zu, dass er, beim ersten Mal unbeabsichtigt, dann jedoch vorsätzlich die erforderlichen Zeitbuchungen nicht vorgenommen hat. Er versuchte, sein Fehlverhalten zu erklären. Seine Arbeitszeit im Akutzentrum mit 38,5 Stunden und seine Nebentätigkeit mit ca. 6 Stunden wöchentlich, dazu die Renovieru...

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