Entscheidungsstichwort (Thema)

Alter. Altersdifferenzierung. Gleichbehandlung. Sozialplan. rentenfern. rentennah. Ungleichbehandlung wegen des Alters

 

Leitsatz (redaktionell)

1. § 10 S. 3 Nr. 6 AGG ist auch insoweit gemeinschaftsrechtskonform, als der Ausschluss von Sozialplanleistungen ermöglicht wird, wenn Arbeitnehmer ggf. nach dem Bezug von Arbeitslosengeld gesetzliche Altersrente in Anspruch nehmen können. Die Regelung ist auch in dieser Hinsicht mit der Richtlinie 2000/78/EG vereinbar. Die Differenzierung zwischen „rentenfernen” und „rentennahen” Jahrgängen ist i.S.v. Art. 6 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie 2000/78/EG objektiv und angemessen und im Rahmen des deutschen Rechts durch ein legitimes sozialpolitisches Ziel gerechtfertigt. Auch das Mittel zur Erreichung dieses Ziels ist angemessen und erforderlich.

2. Der deutsche Gesetzgeber verfolgt mit dieser Regelung auch das im Allgemeininteresse liegende sozialpolitische Ziel, den Betriebsparteien zu ermöglichen, Sozialplanleistungen an den wirtschaftlichen Nachteilen zu orientieren, die den Arbeitnehmern drohen, die durch eine Betriebsänderung ihren Arbeitsplatz verlieren. Diese Nachteile sind bei Arbeitnehmern, die wirtschaftlich abgesichert sind, weil sie ggf. nach dem Bezug von Arbeitslosengeld, gesetzliche Altersrente in Anspruch nehmen können, geringer als bei den von längerer Arbeitslosigkeit bedrohten „rentenfernen” Arbeitnehmern. Es ist ein legitimes Ziel, diesem Umstand durch differenzierte Sozialplanleistungen Rechnung tragen zu können. Dazu ist es angemessen und erforderlich, den Betriebsparteien entsprechende Sozialplangestaltungen zu ermöglichen. Durch die Reduzierung der Sozialplanabfindungen bei rentennahem Ausscheiden ist es möglich, im Interesse der Verteilungsgerechtigkeit das weitere Anwachsen der Abfindungen trotz abnehmender Schutzbedürftigkeit zu korrigieren.

3. § 10 S. 3 Nr. 6 AGG ermöglicht danach den Betriebsparteien unter den dort bestimmten Voraussetzungen eine unmittelbar auf dem Alter beruhende Ungleichbehandlung in einem Sozialplan. Die Vorschrift bestimmt aber nur das legitime Ziel i.S.v. Art. 6 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie 2000/78/EG und eröffnet den Betriebsparteien einen Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum. Dessen Ausgestaltung unterliegt noch einer weiteren Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 10 S. 2 AGG. Die von den Betriebsparteien gewählte Sozialplangestaltung muss geeignet sein, das mit § 10 S. 3 Nr. 6 AGG verfolgte Ziel tatsächlich zu fördern und darf die Interessen der benachteiligten (Alters-)Gruppe nicht unverhältnismäßig stark vernachlässigen. Eine Abweichung von der Rechtsprechung des BAG ist nicht durch die vom Kläger in der Berufung zitierte Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Andersen vom 12.10.2010 – C 499/08 – veranlasst.

4. Es ist sachlich gerechtfertigt, die Fälligkeit des Sozialplananspruchs bis zum Abschluss eines etwaigen Kündigungsschutzprozesses hinauszuschieben.

 

Normenkette

AGG § 10 S. 3 Nr. 6; BetrVG § 75 Abs. 1; EGRL 78/2000

 

Verfahrensgang

ArbG Mainz (Urteil vom 13.09.2010; Aktenzeichen 4 Ca 665/10)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz vom 13. September 2010, Az.: 4 Ca 665/10, wird zurückgewiesen.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Die Revision wird zugelassen, soweit der Antrag zu 4.1. a) auf Zahlung einer Sozialplanabfindung in Höhe von EUR 156.695,42 brutto abgewiesen worden ist. Im Übrigen wird die Revision nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten zuletzt noch über die Höhe einer Sozialplanabfindung.

Der am 10.06.1949 geborene Kläger ist in dritter Ehe verheiratet, er gewährt noch zwei Kindern Unterhalt. Er ist mit einem GdB von 30 behindert und wurde auf seinen Antrag vom 17.11.2009 mit Bescheid vom 07.12.2009 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Er war bei der Beklagten, die ein Versandhandelsunternehmen mit über 900 Arbeitnehmern betreibt, seit dem 01.06.1972 als Bezirksleiter im Sammelbesteller-Außendienst beschäftigt. Die Geschäftsführung der Beklagten beschloss im September 2009, diesen Außendienst mit Wirkung zum 31.12.2009 ersatzlos einzustellen. Am 04.11.2009 vereinbarte sie mit dem Gesamtbetriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste gemäß § 1 Abs. 5 KSchG. In der Liste sind 136 Arbeitnehmer, auch der Kläger, namentlich aufgeführt. Mit Datum vom 05.11.2009 schloss die Beklagte mit dem Gesamtbetriebsrat einen Sozialplan (Bl. 100-102 d.A.). Dieser lautet – auszugsweise – wie folgt:

㤠2

Abfindung

2.2. Die Abfindung berechnet sich nach folgender Formel:

(Bruttoentgelt × Betriebszugehörigkeitszeit × Lebensalter) dividiert durch 60

Für die im Außendienst tätigen Arbeitnehmer … wird … das „Bruttoentgelt” wie folgt pauschaliert:

bei Bezirksleitern:

3.650 EUR

bei Gebietsleitern:

4.450 EUR

Maximal beläuft sich die Abfindung auf den Betrag, den der Arbeitnehmer bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis bis zum frühestmöglichen Zeitpunkt des Anspruchs auf gesetzliche ungekürzte...

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