Entscheidungsstichwort (Thema)

Abgestufte Darlegungslast des Arbeitgebers bei betrieblicher Organisation (Matrixstruktur). Konzern- und gruppenbezogene Betrachtungsweise von Matrixstrukturen. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes bei Tätigkeit eines deutschen Arbeitnehmers im Rahmen eines internationalen Konzerns. Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes wegen Nichterfüllung der sekundären Beweislast des Konzernarbeitgebers

 

Leitsatz (amtlich)

1. Selbst wenn der zu § 23 KSchG ergangenen ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgend angenommen wird, es sei der Arbeitnehmer, der die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsache trägt, er sei in einem Betrieb mit insgesamt mehr als zehn Arbeitnehmern beschäftigt, ist es die Arbeitgeberin, die auf einen entsprechenden Vortrag des Arbeitnehmers ihr Bestreiten dahin konkretisieren muss, wie nach ihrem Verständnis die betriebliche Organisation ihres Unternehmens bzw. ihres Konzerns aussieht. Das gilt besonders in einem Unternehmen mit Matrixstruktur. Hier bekommt die vom 2. Senat (2 AZR 427/16) angewandte Sphärentheorie im Rahmen der abgestuften Darlegungslast nach § 138 ZPO ein besonderes Gewicht.

2. Matrixstrukturen sind so gestaltet, dass nicht jede einzelne Konzerngesellschaft vertikal hierarchisch und horizontal bereichs- oder aufgabenspezifisch gegliedert ist, sondern die einzelnen Gesellschaften für sich genommen sowie in ihrer Funktion als Arbeitgeberinnen wirtschaftlich in den Hintergrund treten und vielmehr der Konzern nach Aufgaben- und Funktionsbereichen gegliedert wird. In den einzelnen organisatorischen Bereichen des Konzerns werden dann Mitarbeiter verschiedener Konzerngesellschaften gemeinsam beschäftigt. Die Berichtslinien verlaufen nicht mehr vertikal in der Anstellungsgesellschaft, sondern konzern- bzw. gruppenbezogen.

3. Wenn in einer Matrixstruktur die deutsche Niederlassung eines internationalen Konzerns als Anstellungsgesellschaft knapp 150 Mitarbeiter administriert, die - von wenigen Ausnahmen abgesehen - alle in wechselnden international zusammengesetzten Gruppen bei den Kunden des Konzern eingesetzt werden, ohne ein Büro oder eine nichtvirtuelle betriebliche Infrastruktur zu nutzen, dann wird die Anstellungsgesellschaft ihrer sekundären Darlegungslast aus § 138 Abs. 1 und 2 ZPO nicht gerecht, wenn sie sich zum Thema "Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes und Kleibetrieb" auf den Vortrag beschränkt, der Kläger sei als Solitär sein eigener aus dem Ausland gelenkter Betrieb und weiter, dass es in ihrer Organisation zwar Betriebe gebe, aber mangels verstetigter Leitungsfunktion keine Betriebe im Sinne des § 23 KSchG.

4. Zur Frage, ob der Betriebsbezug des Schwellenwertes in § 23 KSchG weiterhin verfassungsrechtlich unbedenklich ist, wenn angesichts der von der Arbeitgeberin geschaffenen konkreten Organisation die gesetzgeberischen Erwägungen für die Privilegierung des Kleinbetriebs bei verständiger Betrachtung ins Leere gehen und die Bestimmung des Betriebsbegriffs nach herkömmlicher Definition zu einer sachwidrigen Ungleichbehandlung betroffener Arbeitnehmer führte (BAG v. 19.07.2016 - 2 AZR 468/15 -; BAG v. 28.10.2010 - 2 AZR 392/08 -; BVerfG v. 27.01.1998 - 1 BvL 15/87).

 

Normenkette

KSchG §§ 1, 23; GG Art. 12; ZPO § 138 Abs. 1-2

 

Verfahrensgang

ArbG Köln (Entscheidung vom 08.09.2020; Aktenzeichen 6 Ca 1079/20)

 

Tenor

  • I.

    Auf die Berufung des Klägers wird die Entscheidung des Arbeitsgerichts Köln vom 08.09.2020 - 6 Ca 1079/20 - abgeändert und wie folgt neu gefasst:

    1. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 29.01.2020 beendet worden ist.
    2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger über den 30.04.2020 hinaus zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Solution Architect am Standort K weiter zu beschäftigen.
  • II.

    Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

  • III.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer Kündigung und um einen Antrag auf Weiterbeschäftigung. Dabei sind sich die Parteien insbesondere über die Frage uneinig, ob auf das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis das Kündigungsschutzgesetz Anwendung findet.

Der Kläger war bei der Beklagten unter Anrechnung von Vorbeschäftigungszeiten seit dem 15.09.2015 beschäftigt. Vereinbart war eine Tätigkeit als SAP-Berater/Solution Architekt und ein Bruttomonatseinkommen in Höhe von zuletzt 10.416,66 EUR. In der Arbeitsvertragsurkunde heißt es auszugsweise: "Der Arbeitsort ist K und bei Projektarbeit vor Ort die jeweiligen Standorte der Kunden bundesweit. Die Gesellschaft behält sich vor ... zumutbare Tätigkeiten im Unternehmen zu übertragen. ... Die Lage der Arbeitszeit - Beginn und Ende der Arbeitszeit und die Regelung der Pausen - wird von der Gesellschaft bestimmt und dem Mitarbeiter jeweils gesondert bekannt gemacht." Der Arbeitsvertrag wurde nach dem Wortlaut der Urkunde abgeschlossen zwischen der M L , Niederlassung K , R straße 6...

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