Entscheidungsstichwort (Thema)

Entbehrlichkeit einer Abmahnung vor Ausspruch einer verhaltensbedingten fristlosen Kündigung. Bestimmtheit der Kündigungserklärung. Berücksichtigung des ablehnenden Verhaltens der belästigten Personen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Bewusstes vorsätzliches Verhalten als belastender Bewertungsfaktor bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Konkretisierung des Kündigungsvorwurfs durch Beweisaufnahme

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine fristlose Kündigung ohne vorangegangene einschlägige Abmahnung kommt im Zusammenhang mit sexuellen Belästigungen nicht nur wegen körperlicher Berührungen oder wegen verbaler Übergriffigkeiten in Betracht, sondern auch wegen des Aufbaus und der Aufrechterhaltung einer Gesamtsituation in der Dienststelle, die von sexualisierter hierarchischer Einflussnahme geprägt ist.

2. Auch wenn die Feststellung einer sexuellen Belästigung im Sinne des § 3 Abs. 4 AGG nicht voraussetzt, dass sich die belästigte Person ablehnend äußert, so sind tatsächlich erfolgte Aufforderungen an die belästigende Person, sexualisiertes Verhalten künftig zu unterlassen, im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Kündigung berücksichtigungsfähig.

3. Wenn ein belästigender Vorgesetzter seine Bemerkungen mit den Worten "jetzt aber kein metoo draus machen" abschließt, dann zeigt er damit, dass er weiß, was er tut und dass er weiß, dass er mit seinem Tun den Bestand seines Arbeitsverhältnisses gefährdet.

4. Wenn der belästigende Vorgesetzte in einem Personalgespräch die von ihm begangenen Bemerkungen und Verhaltensweisen bestreitet und Verleumdungsklagen gegen die von ihm belästigten Frauen ankündigt, dann ist dies kein unerhebliches Nachtatverhalten, es ist auch kein zulässiges prozessuales Bestreiten, sondern es ist eine Tatsache, die zusätzlich die negative Zukunftsprognose begründen kann.

5. Wenn die Arbeitgeberin - vermittelt durch die sich erklärenden Arbeitnehmerinnen - konkrete Orte und konkrete Zeiten von immer wiederkehrenden Bemerkungen und Verhaltensweisen des Vorgesetzten während der vergangenen vier Jahre nicht eingrenzen kann, dann ist nicht etwa der Kündigungsschutzklage "mangels hinreichender Konkretisierung des Kündigungsvorwurfs" stattzugeben; vielmehr erlaubt dieser Mangel an Konkretisierung dem Arbeitnehmer ein bloß pauschales Bestreiten der ihm vorgehaltenen ca. 25 - teilweise immer wiederkehrenden - Bemerkungen und Verhaltensweisen und damit die Durchführung einer Beweisaufnahme durch Vernehmung der besagten Arbeitnehmerinnen.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Einer Abmahnung bedarf es nicht, wenn eine gravierende Vertragsverletzung vorliegt oder erkennbar ist, dass bei vorsätzlichem Handeln die Warn- und Hinweisfunktion der Abmahnung fruchtlos sein würde. Auch bei Vertragsverletzungen durch sexuelle Belästigung ist eine Abmahnung in der Regel nicht erforderlich.

2. Eine Kündigung muss als empfangsbedürftige Willenserklärung so bestimmt sein, dass der Empfänger Klarheit über die Absichten des Kündigenden erhält. Der Kündigungsadressat muss erkennen können, zu welchem Zeitpunkt das Arbeitsverhältnis aus Sicht des Kündigenden beendet sein soll. Deshalb muss sich aus der Kündigungserklärung oder den Umständen ergeben, ob eine fristgemäße oder eine fristlose Kündigung gewollt ist.

 

Normenkette

BGB §§ 626, 314; AGG § 3; LPVG NRW § 74; GG Art. 1-2; GRCh Art. 21; AEUV Art. 19, 57; BGB § 305 Abs. 1, § 307 Abs. 1; AGG § 7 Abs. 3; ZPO § 138

 

Verfahrensgang

ArbG Siegburg (Entscheidung vom 20.05.2021; Aktenzeichen 5 Ca 2273/20)

 

Tenor

  1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Siegburg vom 20.05.2021 - 5 Ca 2273/20 - abgeändert und die Klage abgewiesen.
  2. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.
  3. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung. Dabei steht gegenüber dem Kläger der Vorwurf der sexuellen Belästigung im Raum.

Der Kläger ist am 1968 geboren, war im Zeitpunkt der letzten Berufungsverhandlung also 54 Jahre alt. Bei der beklagten Stadt ist er seit dem 01.08.1985, also seit über 35 Jahren, beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der TVöD kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme Anwendung. Gemäß § 34 Abs. 2 TVöD ist im Falle des Klägers eine ordentliche Kündigung ausgeschlossen. Zuletzt bezog der Kläger ein Bruttomonatsentgelt in Höhe von 6.216,36 EUR.

Seit dem Jahre 2014 bekleidet der Kläger eine leitende Funktion, nämlich die des stellvertretenden Fachbereichsleiters des Fachbereichs "Schule, Sport und Kultur" (43 Beschäftigte) und der Abteilung "Soziales" (15 Beschäftigte).

Im Rahmen einer bei der Beklagten im Oktober 2020 durchgeführten Mitarbeiterbefragung zur psychischen Gefährdungsbeurteilung, deren Einzelheiten zwischen den Parteien streitig sind, kamen Vorwürfe über eine sexuelle Belästigung im Bereich Soziales auf.

Am 12.11.2020 wurden daraufhin alle weiblichen Beschäftigten der Abteilung Soziales zu einer Versammlung in das Rathaus gebeten. Dort wurde über den S...

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