Entscheidungsstichwort (Thema)

Massenentlassungsschutz für schwerbehinderten Arbeitnehmer. Entscheidungserheblichkeit des Zugangs der Kündigung für Entlassungszeitpunkt auch bei Schwerbehinderten. Vermutung dringender betrieblicher Erfordernisse bei namentlicher Nennung des Arbeitnehmers beim Interessenausgleich. Unterschiedlicher Prüfungsmaßstab bei § 172 Abs. 1 SGB IX und § 18 BEEG

 

Leitsatz (amtlich)

Der Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte Arbeitnehmer (§§ 168 ff. SGB IX) sieht ein dem Massenentlassungsschutz des § 17 KSchG gleichwertiges behördliches Verfahren vor. Für schwerbehinderte Arbeitnehmer und ihnen Gleichgestellte ist der maßgebliche Entlassungszeitpunkt iSd. § 17 KSchG nicht der Zeitpunkt des Zugangs des Antrags des Arbeitgebers auf Kündigungszustimmung beim Integrationsamt, sondern der Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 5, § 17; SGB IX § 172; ZPO § 97 Abs. 1; BEEG § 18

 

Verfahrensgang

ArbG Herne (Entscheidung vom 18.02.2020; Aktenzeichen 2 Ca 1670/19)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgericht Herne vom 18. Februar 2020 - 2 Ca 1670/19 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die rechtliche Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.

Zwischen den Parteien besteht seit Oktober 2011 ein Arbeitsverhältnis, nach dessen Arbeitsvertrag eine Betriebszugehörigkeit des Klägers zum S-Konzern seit dem 1. September 2002 anerkannt ist. Das Bruttomonatsentgelt des Klägers belief sich zuletzt auf etwa 4.200,00 Euro. Der Kläger ist am 24. März 1986 geboren und einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.

Die Beklagte erbringt als Tochtergesellschaft der S AG für den S-Konzern diverse Dienstleistungen und beschäftigte im Kündigungszeitpunkt regelmäßig mehr als 10 Arbeitnehmer.

Der Kläger war zuletzt im Bereich "Equipmentvermarktung/bergtechnische Dienstleistungen" tätig, jedoch in diesem Bereich zumindest seit 2018 nicht mehr unmittelbar mit Verkauf und Kundenkontakt befasst, sondern der Organisationseinheit "Zentrale Koordinierung" dieses Geschäftsfelds zugeordnet, welche sich mit Controlling und Koordinierung befasste. Neben dem Kläger war dieser Einheit noch der Mitarbeiter E.. zugeordnet.

Vor dem Hintergrund des Endes des Steinkohlenbergbaus in Deutschland 2018 beschloss die Beklagte am 5. Februar 2019, ihre Geschäftsaktivitäten zum 31. Dezember 2019 teilweise und zum 31. Dezember 2020 dann vollständig einzustellen.

Die Beklagte hat einen Interessenausgleich vorgelegt, der unter dem 12. März 2019 und 18. März 2019 Unterschriften des Betriebsrats und ihrer Geschäftsführung aufweist und auszugsweise wie folgt lautet:

"§ 1

Unternehmerische Maßnahme

[...]

(2) Das Geschäftsfeld "Equipmentvermarktung/Bergtechnische Dienstleistungen" wird noch bis zum 31.12.2020 fortgeführt. Aufgrund des bis dahin rückläufigen Auftragsvolumens wird dieses Geschäftsfeld bereits zum 31.12.2019 eingeschränkt (insbesondere die Einstellung des Bereiches Zentrale Koordinierung) und dann zum 31.12.2020 vollständig eingestellt. Folge dieser Entwicklungslinie ist, dass der Bedarf für die weitere Beschäftigung von vier Arbeitnehmern zum 31.12.2019 und von vier weiteren Arbeitnehmern zum 31.12.2020 entfällt.

[...]

(7) Die Parteien dieses Interessenausgleichs stimmen darin überein, dass die vorstehenden unternehmerischen Maßnahmen die Voraussetzungen einer Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG erfüllen. Beide Parteien sind sich einig, dass die Geschäftsführung den Betriebsrat über die geplanten Maßnahmen rechtzeitig und umfassend unterrichtet und mit ihm beraten hat.

§ 2

Personelle Maßnahmen

(1) Zwischen den Parteien dieses Interessenausgleichs besteht Einigkeit, dass der Personalabbau vorrangig sozialverträglich erfolgen soll. Dazu werden folgende Instrumente bzw. Maßnahmen genutzt:

Nichtverlängerung von befristeten Arbeitsverträgen

Abschluss von Aufhebungsverträgen

Vermittlung auf Arbeitsplätze bei anderen Unternehmen

(2) Sollten diese personellen Maßnahmen nicht zu der erforderlichen Reduzierung der Beschäftigtenzahlen führen, besteht zwischen den Vertragsparteien Einigkeit, dass arbeitgeberseitig betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen werden müssen. Hierzu haben die Vertragsparteien gemeinsam eine Auswahlrichtlinie gemäß § 1 Absatz 4 KSchG i.V.m. § 95 BetrVG erarbeitet und vereinbart, die als Anlage 1 Bestandteil dieses Interessenausgleichs ist. Eine zwischen den Parteien auf dieser Grundlage erarbeitete und gemeinsam abgestimmte Namensliste der zur Kündigung anstehenden Arbeitnehmer ist als Anlage 2 ebenfalls Bestandteil dieses Interessenausgleichs.

§ 3

Rechte des Betriebsrats

Die Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates nach dem BetrVG bleiben von diesen Interessenausgleich unberührt."

Zudem hat die Beklagte eine Namensliste der zu kündigenden Arbeitnehmer mit Unterschriften des Betriebsrats und der Geschäftsführung vom 12. und 18. März 2019 vorgelegt. Auf dieser befinden sich acht Arbeitnehmer (darunter der...

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