Entscheidungsstichwort (Thema)

Ermessensspielraum bei Umsetzung eines Stilllegungsplans. Wirksamkeit der Kündigung trotz fehlender Sozialauswahl bei vertretbarem Auswahlergebnis. Prüfungsmaßstab des § 125 InsO. Grob fehlerhafte Auswahlentscheidung aufgrund fehlender sozialer Kriterien

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei der Entscheidung, welchem Arbeitnehmer zum nächstmöglichen Termin gekündigt werden und wer zunächst im Lichte des § 113 InsO weiterbeschäftigt werden soll, sind durch den Arbeitgeber und den Insolvenzverwalter die Grundsätze der Sozialauswahl zu beachten.

2. Dem Insolvenzverwalter steht bei der Umsetzung des Stilllegungsplans ein Ermessensspielraum zu.

3. Auch wenn eine nach § 1 Abs. 3 KSchG notwendige Sozialauswahl nicht durchgeführt wurde, so ist die Kündigung dennoch nicht unwirksam, sofern im Ergebnis ein vertretbares Auswahlergebnis erzielt wurde.

4. Die Auswahlentscheidung ist nach dem Maßstab des § 125 Abs. 1 S. 1 InsO grob fehlerhaft, weil trotz großer Unterschiede in den Personen der Arbeitnehmer keine sozialen Auswahlkriterien herangezogen worden sind.

 

Normenkette

BetrVG § 102; InsO §§ 113, 125 Abs. 2 S. 1 Nr. 2; KSchG § 1 Abs. 3, § 17; ZPO § 97 Abs. 1, §§ 233, 234 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Dortmund (Entscheidung vom 10.03.2021; Aktenzeichen 10 Ca 3370/20)

 

Tenor

  1. Dem Beklagten wird wegen der Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 10.03.2021 - 10 Ca 3370/21 - Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt.
  2. Die Berufungen des Klägers und des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 10.03.2021 - 10 Ca 3370/21 - werden zurückgewiesen.
  3. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen zu 25% der Kläger und zu 75% der Beklagte.
  4. Die Revision wird zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, aus betriebsbedingten Gründen ausgesprochenen Kündigung sowie über einen Anspruch des Klägers auf vorläufige Weiterbeschäftigung.

Der am 27. Dezember "0000" geborene, verheiratete und gegenüber zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 17. August 1992 bei der Ar Profile GmbH (nachfolgend: Insolvenzschuldnerin) als Armaturenschlosser beschäftigt. Er ist mit einem GdB von 40 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Seine durchschnittliche monatliche Bruttovergütung belief sich zuletzt auf 4.364,93 €.

Gegenstand des Unternehmens der Insolvenzschuldnerin sind die Herstellung und der Vertrieb von vorwiegend warmgewalzten und kaltgezogenen Spezialprofilen aus Stahl und sonstigen Stahlerzeugnissen. Die Produktion gliedert sich dabei im Wesentlichen in die Bereiche Walzwerk, Ziehwerk und das sogenannte Technikum (Sondertechnik).

Mit Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 01. März 2020 wurde über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin, bei der ca. 400 Arbeitnehmer beschäftigt waren, das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter ernannt. Dieser schloss unter dem 27. März 2020 mit dem bei der Insolvenzschuldnerin gebildeten Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 Arbeitsverhältnissen vorsah. Im Rahmen dieser ersten "Kündigungswelle" baute der Beklagte in der Gruppe der "Armaturenfertiger", welcher auch der Kläger angehörte, zwei von 12 Arbeitsplätzen ab.

Mit E-Mail vom 30. April 2020 teilte der Beklagte dem Betriebsrat mit, dass es leider erforderlich sei, umgehend Verhandlungen über einen erneuten Personalabbau aufzunehmen. In der Mail wies er darauf hin, dass mit den Verhandlungen zum Abschluss eines Interessenausgleichs auch das Anhörungsverfahren zu den beabsichtigten Kündigungen nach § 102 BetrVG wie auch das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG zur Massenentlassung verbunden werden und demgemäß Informationen, die im Rahmen der Verhandlungen zum Interessenausgleich und Sozialplan erteilt werden, auch förmliche Informationen im Rahmen des Anhörungsverfahrens nach § 102 BetrVG und des Konsultationsverfahrens nach § 17 KSchG sind. Dieser E-Mail war auch eine Excel-Liste beigefügt, die sämtliche Arbeitnehmer der Insolvenzschuldnerin nebst deren Sozialdaten enthielt.

In der Folgezeit fanden am 06., 14., 18. und 26. Mai 2020 Verhandlungen statt. Mit E-Mail vom 28. Mai 2020 überreichte der Beklagte dem Betriebsrat die Endfassungen des Interessenausgleichs und Sozialplans. Diese wurden zunächst nicht unterzeichnet, da der Gläubigerausschuss in seiner Sitzung vom 28. Mai 2020 den Beschluss fasste, die Kaufverhandlungen mit den Kaufinteressenten für den Geschäftsbetrieb der Insolvenzschuldnerin zunächst fortzuführen.

Am 29. Juni 2020 unterzeichneten der Beklagte und der Betriebsrat schließlich den Interessenausgleich, in dem u. a. folgendes festgehalten ist:

"Vorbemerkungen

...

Der Gläubigerausschuss hat in seiner Sitzung am 24.06.2020 entschieden, das Kaufangebot eines Kaufinteressenten wegen fehlender Nachhaltigkeit nicht anzunehmen. Ein zusätzlicher Interessent hatte lediglich ein indikatives Angebot abgegeben...

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