Entscheidungsstichwort (Thema)

Geltung eines Firmensanierungstarifvertrages aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklausel

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Auslegung einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel unter Berücksichtigung des Transparenzgebots und der Unklarheitenregelung (Firmentarifvertrag statt Verbandstarifvertrag)

2. Ein in Bezug genommener Firmentarifvertrag setzt sich nach dem Grundsatz der Spezialität gegenüber einem ebenfalls in Bezug genommenen Flächentarifvertrag durch. Das Günstigkeitsprinzip führt zu keinem anderen Ergebnis.

 

Normenkette

BGB § § 305 ff., § 305c Abs. 2, § 307 Abs. 1 S. 2; TVG § 4 Abs. 1; BGB §§ 133, 157, 611a

 

Verfahrensgang

ArbG Hamburg (Entscheidung vom 19.07.2017; Aktenzeichen 22 Ca 373/16)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 12.12.2018; Aktenzeichen 4 AZR 123/18)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 19. Juli 2017 (22 Ca 373/16) werden jeweils zurückgewiesen.

Von den Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin 77 % und die Beklagte 23 %.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um Zahlung und Feststellung und insoweit darüber, ob auf das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis Tarifverträge für den Einzelhandel in Hamburg, insbesondere ein Entgelttarifvertrag in der jeweils gültigen Fassung, oder ein Sanierungstarifvertrag Anwendung finden.

Die Beklagte betreibt ein Einzelhandelsunternehmen mit einer Vielzahl von Filialen im Bundesgebiet. Die Klägerin, die Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) ist, ist jedenfalls seit dem 1. Dezember 2000 (Arbeitsvertrag vom 3. November 2000, Bl. 83 d.A.), zuletzt auf der Grundlage eines Anstellungsvertrags vom 17. September 2006 (Anlage K 1, Bl. 13 f. d.A.), bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin in der Filiale M. in Hamburg als Kassiererin beschäftigt. Der Anstellungsvertrag vom 17. September 2006, auf den im Übrigen Bezug genommen wird, lautet auszugsweise:

"[...]

2. Sie erhalten für Ihre Tätigkeit eine Vergütung von Euro 779,23 brutto für 54,70___ Std./monatlich = 16% der tariflichen Monatsarbeitszeit.

Im vorstehenden Betrag sind enthalten:

nach Tarifgruppe GB 3/St. 01.04.00 EUR _______ brutto

3. Etwaige die tariflichen Ansprüche übersteigende Mehrbezüge werden bei einer Veränderung der tariflichen Ansprüche verrechnet, es sei denn, dass ausdrücklich eine andere Vereinbarung getroffen wird.

Außertarifliche Zulagen, Prämien, Sonderzahlungen jeder Art sind freie, jederzeit ohne Einhaltung einer Frist widerrufliche Zahlungen der Firma.

[...]

9. Sie erhalten Urlaub nach den jeweils geltenden Bestimmungen des Tarifvertrags und der Betriebsordnung

[...]

14. Die Bedingungen dieses Anstellungsvertrages behalten ihre Gültigkeit auch dann, wenn eine Änderung der bisherigen Tätigkeit und/oder eine Änderung des Entgelts - bei Teilzeitbeschäftigung auch der Arbeitszeit - eintritt. Im übrigen gelten die Tarifverträge für den Hamburger Einzelhandel, die Gesamtbetriebsvereinbarungen der K. W. AG, sowie die Betriebsordnung der o.g. Betriebsstelle in ihrer jeweils gültigen Fassung.

[...]"

Der zuvor zwischen den Parteien geschlossene Anstellungsvertrag vom 3. November 2000 (Anl. B 2, Bl. 83 d.A.) enthält insoweit nahezu gleichlautende Formulierungen. Wegen des genauen Wortlautes der diesbezüglichen Regelungen wird auf die Anlage B 2 Bezug genommen.

Aufgrund eines Zusatzvertrags beträgt die tatsächliche Arbeitszeit der Klägerin nicht mehr 54,7, sondern 55 Stunden wöchentlich.

Bis zum 6. Mai 2013 war die Beklagte Vollmitglied des tarifschließenden Arbeitgeberverbands, dem Landesverband des Hamburger Einzelhandels e.V.. Mit Kündigung vom 6. Mai 2013 (vgl. Anlage B 1, Bl. 82 d.A.) beendete die Beklagte ihre Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband mit sofortiger Wirkung. Nach ihrem Verbandsaustritt zahlte sie an die Klägerin nur noch ein "Tarifgehalt" auf Basis des zum 6. Mai 2013 geltenden Entgelttarifvertrags des Hamburger Einzelhandels in Höhe von € 887,36 brutto (vgl. Entgeltabrechnungen für April bis Oktober 2016, Anlagenkonvolut K3, Bl. 25 ff. d.A.). Tariflohnerhöhungen in 2013 bzw. den Folgejahren gab die Beklagte nicht mehr an die Klägerin weiter.

Mit der am 20. Dezember 2016 beim Arbeitsgericht Hamburg eingegangenen und der Beklagten am 2. Januar 2017 zugestellten Klage hat die Klägerin rückwirkend Differenzvergütungen (monatlich € 89,48 brutto) für die Monate April 2016 bis November 2016, ein um € 55,26 brutto höheres Urlaubsgeld und eine um € 37,91 brutto höhere Jahressonderzahlung geltend gemacht, die sich unstreitig unter Berücksichtigung zwischenzeitlicher Tariflohnerhöhungen auf Basis des Entgelttarifvertrags des Einzelhandels in Hamburg ergeben würden. Dabei streiten die Parteien darüber, ob der Klägerin ein Anspruch auf entsprechende Tariflohnerhöhungen aus den Tarifabschlüssen für die Jahre 2013 bis 2016 zusteht.

Zwischenzeitlich vereinbarte die Beklagte mit der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) einen sog. "Zukunftstarifvertra...

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