Entscheidungsstichwort (Thema)

Kündigung eines Schwerbehinderten. Nachweis der Schwerbehinderung. Mitwirkungspflichten

 

Leitsatz (amtlich)

1. § 90 Abs. 2 a SGB IX verlangt für die Beibehaltung des Sonderkündigungsschutzes schwerbehinderter Arbeitnehmer gemäß § 85 SGB IX keinen Nachweis der Schwerbehinderung – sei es durch Vorlage des Bescheides des Versorgungsamtes oder des Ausweises – gegenüber dem Arbeitgeber.

2. Ebensowenig gibt § 90 Abs. 2 a SGB IX vor, dass der Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter mindestens drei, falls ein medizinisches Gutachten zur Feststellung der Schwerbehinderung erforderlich ist, sogar sieben Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt sein muss.

3. Nach § 90 Abs. 2 a SGB IX findet § 85 SGB IX und damit das Erfordernis der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes bei Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers nur dann keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs entwender die Schwerbehinderung nicht nachgewiesen oder bei einem laufenden Anerkennungsverfahren dessen Abschluss aufgrund schuldhaft fehlender Mitwirkung des Arbeitnehmers nicht innerhalb dieser drei -bzw. siebenwöchigen Fristen erfolgen konnte.

 

Normenkette

SGB IX §§ 85, 90 Abs. 2a

 

Verfahrensgang

ArbG Solingen (Urteil vom 15.09.2005; Aktenzeichen 1 Ca 2065/04 lev)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Solingen vom 15.09.2005 – 1 Ca 2065/04 lev – teilweise abgeändert und festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die vom 28.09.2004 datierte Kündigung der Beklagten nicht aufgelöst ist.

II. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten im Berufungsverfahren noch über die Wirksamkeit zweier fristgerechter Kündigungen und mehrerer Abmahnungen. Hinsichtlich der Kündigungen ist dabei vorrangig streitig, ob diese schon aufgrund eines dem Kläger zustehenden besonderen Kündigungsschutzes nach Maßgabe des § 85 SGB IX unwirksam sind.

Der am 02.02.1969 geborene Kläger trat mit Abschluss eines Eingliederungs- und Betreuungsvertrages am 08.09.1986 in die Dienste der Rechtsvorgängerin der Beklagten, auf die das Arbeitsverhältnis infolge Betriebsübergangs am 30.10.2003 überging. Der im Bereich Werksdienste/Verkehrsflächen-Service als Hofarbeiter und Kraftfahrer eingesetzte Kläger verdiente zuletzt durchschnittlich monatlich 2.400,00 – brutto.

Am 08.09.2004 beantragte der Kläger beim Versorgungsamt K. seine Anerkennung als Schwerbehinderter. Mit Bescheid vom 22.04.2005 entsprach das Versorgungsamt dem nicht und stellte lediglich einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 fest. Auf Widerspruch des Klägers wurde allerdings mit Abhilfebescheid vom 27.09.2005 die Schwerbehinderteneigenschaft mit einem GdB von 50 wegen eines Hirnschadens mit Lernbehinderung und Verhaltensauffälligkeiten sowie eines degenerativen Wirbelsäulensyndroms, rückwirkend ab dem 08.09.2004 anerkannt. Zwischenzeitlich hatte die Beklagte mit Schreiben vom 28.09.2004, das dem Kläger am 29. oder 30.04.2004 zuging, eine Kündigung zum 31.12.2004 ausgesprochen. Die Beklagte stützt diese Kündigung – wie auch die spätere Kündigung vom 19.07.2005 – darauf, dass der Kläger ungeachtet einschlägiger Abmahnungen, zuletzt datiert vom 30.06.2004, am 30.08.2004 unerlaubt eine halbstündige Pause eingelegt und am 13.09.2004 seine Arbeit unentschuldigt etwa eine Stunde verspätet aufgenommen habe. Der Betriebsrat hatte den Kündigungen im Anhörungsverfahren widersprochen und dies u. a. damit begründet, dass der Kläger nicht in der Lage scheine, die Tragweite seines Handelns abschätzen zu können.

Der Kläger ist der Auffassung, die Kündigung vom 28.09.2004 sei bereits deshalb unwirksam, weil ihr das Integrationsamt nicht, wie gemäß § 85 Abs. 1 SGB IX geboten, zugestimmt habe. An dem ihm zustehenden Sonderkündigungsschutz als Schwerbehinderter scheitere auch die zweite Kündigung. Soweit das Integrationsamt der Kündigung vom 19.07.2005 die Zustimmung erteilt habe, sei dies noch nicht bestandskräftig; über seinen Widerspruch sei noch nicht entschieden. Den Kündigungen fehle im Übrigen die soziale Rechtfertigung, weil sie unverhältnismäßig seien, zumal er in der Vergangenheit zu Unrecht abgemahnt worden sei.

Der Kläger, der erstinstanzlich auch noch eine Zeugnisberichtigung begehrte, hat zunächst beantragt,

  1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien ungeachtet der undatierten Kündigung, zugegangen am 30.09.2004, über den 31.12.2004 hinaus fortbesteht,
  2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien auch nicht durch die Kündigung vom 19.07.2005, und damit auch nicht zum 31.12.2005 beendet ist,
  3. die Beklagte zu verurteilen, ihre Abmahnungen vom 07.08.2000, 23.10.2001, 04.12.2003 und 30.06.2004 inhaltlich zurückzunehmen und körperlich Gegenstände aus der Personalakte zu entfernen.
  4. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ein Zeugnis des näheren Inhalts wie zu Bl. 287 GA zu erteilen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

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