Entscheidungsstichwort (Thema)

Fehlerhafte Massenentlassungsanzeige

 

Leitsatz (amtlich)

Der Verstoß gegen die Mussvorschriften des § 17 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 KSchG führt zur Unwirksamkeit der nachfolgenden Kündigung. Daran ändert nichts, dass die Agentur für Arbeit die (nicht ordnungsgemäß) angezeigte Massenentlassung im Rahmen der Prüfung der Sperrfrist nach § 18 KSchG unbeanstandet gelassen hat.

 

Normenkette

KSchG § 17 Abs. 3

 

Verfahrensgang

ArbG Solingen (Urteil vom 24.03.2010; Aktenzeichen 3 Ca 597/09 lev)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 28.06.2012; Aktenzeichen 6 AZR 726/10)

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Solingen vom 24.03.2010 wird kostenfällig zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

A.Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer ordentlichen arbeitgeberseitigen Kündigung vom 11.03.2009, die der Beklagte nach einem Interessenausgleich mit Namensliste ausgesprochen hat. Die Klägerin bestreitet die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats. Des Weiteren beanstandet sie die Massenentlassungsanzeige. Schließlich stellt sie die Betriebsbedingtheit der Kündigung in Abrede und hält die Bildung des auswahlrelevanten Personenkreises für grob fehlerhaft. Der Beklagte beruft sich auf die durch § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO begründete Vermutung der Betriebsbedingtheit der Kündigung und die auf grobe Fehlerhaftigkeit beschränkte Sozialauswahlkontrolle. Er macht geltend, den Betriebsrat mündlich und schriftlich zur Kündigung angehört zu haben. Schließlich verteidigt er die Massenentlassungsanzeige als ordnungsgemäß; im Übrigen hält er den Einwänden der Klägerin den Zustimmungsbescheid der zuständigen Agentur für Arbeit entgegen.

Die Klägerin, am 02.06.1956 geboren, ledig, trat am 01.08.1978 als technische Zeichnerin in die Dienste der U. Friction GmbH. Seit 1996 wurde sie mit Sachbearbeiteraufgaben in verschiedenen Abteilungen befasst, seit November 2004 als Sachbearbeiterin in der Poststelle eingesetzt. Gemäß Überleitungsvertrag vom 08.08.2007 ging das Arbeitsverhältnis auf die U. Friction Services GmbH über. Die U. Friction Services GmbH ist innerhalb der U. Friction Gruppe, die Bremsbeläge für Personenkraftwagen und Nutzfahrzeuge herstellt, im Wesentlichen mit dem Vertrieb der Produkte im Ersatzteilmarkt befasst und nimmt für die Gruppe die Aufgaben der Forschung und Entwicklung wahr.

Die U. Friction Services GmbH beschäftigte zuletzt ca. 544 Arbeitnehmer, davon 445 im Betrieb M..

Am 08.12.2008 wurde über das Vermögen der U. Friction Services GmbH (Schuldnerin) das vorläufige Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. Während des vorläufigen Insolvenzverfahrens beschloss die Schuldnerin im Zusammenwirken mit dem Beklagten ein Sanierungskonzept, das am Standort M. einen Personalabbau von 44 Mitarbeitern vorsah. Am 23.02.2009 nahmen der Beklagte und die Schuldnerin mit dem Betriebsrat Verhandlungen über einen Interessenausgleich und Sozialplan auf. Am 24.02.2009 kam der Interessenausgleich mit einer 44 Arbeitnehmer, darunter die Klägerin, umfassenden Namensliste zustande (Bl. 35 ff. GA).

Mit Formularschreiben vom 25.02.2009 (Bl. 53 f. GA) zeigte die Schuldnerin bei der Agentur für Arbeit die Massenentlassung von 37 Mitarbeitern an. In einer der Anzeige beigefügten Liste (Bl. 155 GA) sind die Mitarbeiter ohne Namensnennung nach Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Alter, Familienstand, Beschäftigungsort, Beruf, zuletzt ausgeübte Tätigkeit und Einstellungsjahr bei Angabe des 27.02.2009 als vorgesehenem Kündigungsdatum aufgeführt. Als einzige „Sachbearbeiter/in Post-Office” (Nr. 13 der Liste) wird auch die Klägerin erfasst.

Die Massenentlassungsanzeige ging bei der Agentur für Arbeit Bergisch-Gladbach (nachfolgend: AfA) per Fax am 26.02.2009, 11:48 Uhr ein. Mit Schreiben vom 26.02.2009 (Bl. 55 f. GA) an die Schuldnerin bestätigte die AfA den Eingang der Anzeige. Weiter heißt es: „Damit beginnt die in § 18 Abs. 1 KSchG festgesetzte Frist von einem Monat am 27.02.2009 und endet am 26.03.2009 (§§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB). Innerhalb dieser Frist werden Kündigungen nur mit Zustimmung des in § 20 KSchG bezeichneten Entscheidungsträgers wirksam. …”

Am 26.02.2009, 17:00 Uhr, ging der AfA per Fax ein von der Betriebsratsvorsitzenden Frau B. unterzeichnetes Schreiben vom 26.02.2009 (Bl. 186 GA) zu, wonach „der Betriebsrat der U. Friction Services GmbH darüber informiert (wurde), dass ein Antrag auf Entlassungen gemäß § 17 Kündigungsschutzgestz an die Agentur für Arbeit gesendet wurde.” Ebenfalls am 26.02.2009 um 20:04 Uhr erhielt die AfA per Fax einen „Interessenausgleich vom 23./24.02.2009”. Dabei handelt es sich nicht um den zwischen der Schuldnerin und dem Betriebsrat am 24.02.2009 abgeschlossenen Interessenausgleich, sondern um den im Schwesterunternehmen U. Friction GmbH mit dem dortigen Betriebsrat geschlossenen Interessenausgleich. Weitere Unterklagen ließen die Schuldnerin bzw. der Beklagte der AfA im Massenentlassungsanzeigeve...

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