Entscheidungsstichwort (Thema)

Örtliche Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit bei Auflösung einer Betriebsstruktur. Betriebsbedingte Kündigung wegen Insolvenz einer Fluggesellschaft. Ordnungsgemäße Anhörung der PV Cockpit. Angabe von Entlassungszeiträumen zu Beginn des Konsultationsverfahrens nach § 17 Abs. 2 KSchG

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zuständige Behörde für die Massenentlassungsanzeige ist bei einer aufgelösten betrieblichen Struktur diejenige Agentur für Arbeit, in deren Zuständigkeitsbereich der letzte nach der Massenentlassungsrichtlinie feststellbare Betrieb lag und nicht diejenige Agentur für Arbeit am gesellschaftsrechtlichen Sitz des Unternehmens. Dies gilt auch für eine erneute Kündigung, nachdem die ursprüngliche Kündigung wegen Betriebsstilllegung aufgrund von Fehlern bei der Massenentlassungsanzeige rechtsunwirksam war.

2. Zu den Anforderungen an die Angabe des Zeitraums, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, bei der Einleitung des Konsultationsverfahrens gemäß § 17 Abs. 2 KSchG.

3. § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG ist kein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB. Es bleibt offen, ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG i.S.v. § 6 KSchG eigenständig gerügt werden muss.

 

Normenkette

RL 98/59/EG Art. 2 Abs. 3-4, Art. 3 Abs. 1; BetrVG § 102 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 1-2, §§ 6, 17 Abs. 1-3; ZPO § 97 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Düsseldorf (Entscheidung vom 01.06.2021; Aktenzeichen 4 Ca 1734/21)

 

Tenor

  1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 01.06.2021 - 4 Ca 1734/21 - wird zurückgewiesen.
  2. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Kläger auferlegt.
  3. Die Revision wird zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, betriebsbedingten Kündigung.

Der Beklagte ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der Air A. PLC & Co. Luftverkehrs KG (im Folgenden Schuldnerin). Der Kläger war seit dem 14.11.2007 als Erster Offizier/Flugzeugpilot mit einem Bruttomonatsgehalt von zuletzt 10.606,42 Euro für die Schuldnerin bzw. deren Rechtsvorgängerin beschäftigt.

Bei der Schuldnerin handelte es sich um eine Fluggesellschaft mit Sitz in A. mit Stationen an verschiedenen Flughäfen. Sie beschäftigte im August 2017 rund 6.200 Beschäftigte im Cockpit, in der Kabine und am Boden. In der Firmenzentrale in A. waren die Verwaltung, das Head-Office, die Personalabteilung, die Buchhaltung, der Vertrieb und die IT-Abteilung ansässig. Der Flugbetrieb der Schuldnerin wurde einheitlich von A. aus im Operation Control Center (OCC) koordiniert. Zudem waren die verantwortlichen Personen für den Flugbetrieb, Ground Operations, Aufrechterhaltung der Lufttüchtigkeit und der verantwortliche Flugbetriebsleiter in A. stationiert. Für die Station K.war der Regionalmanager West tätig, dem sog. Areamanager beigeordnet waren.

Für das Cockpitpersonal war gemäß § 117 Abs. 2 BetrVG durch Abschluss des "Tarifvertrags Personalvertretung (TVPV) für das Cockpitpersonal der Air A. PLC & Co. Luftverkehrs KG" eine Personalvertretung (im Folgenden PV Cockpit) gebildet.

Die von der Schuldnerin eingesetzten Flugzeuge standen nicht in deren Eigentum, sondern waren geleast. Seit Anfang des Jahres 2017 führte die Schuldnerin neben dem eigenwirtschaftlichen Flugbetrieb auch noch Flüge im sog. Wet-Lease für Unternehmen der M.-Gruppe, insbesondere für die Euro M. GmbH (im Folgenden Euro M.), durch. Die Schuldnerin stellte dabei die von ihr selbst geleasten Flugzeuge (sog. Head-Lease) Euro M. als weiterer Leasingnehmerin (sog. Sub-Lease) mit Besatzung, Wartung und Versicherung zur Verfügung. Die vertraglichen Abreden wurden als ACMIO-Vereinbarung bezeichnet. ACMIO steht für "Aircraft, Crew, Maintenance, Insurance, Overhead". Die Personalplanung verblieb dementsprechend bei der Schuldnerin. Die für Euro M. eingesetzten Flugzeuge wurden mit dem Euro-A.-Logo versehen und entsprechend lackiert. Das fliegende Personal trug jedenfalls teilweise im Wet-Lease-Einsatz Uniformen der Euro M.. Der Wet-Lease-Flugbetrieb wurde an den einzelnen Flughäfen mit Start- und Landerechten für bestimmte Zeitspannen (Slots) der Euro M. durchgeführt.

Bis zu 38 Flugzeuge der Schuldnerin flogen im Wet-Lease. Zumindest einige Flugzeuge waren umlackiert. Die Crews trugen die Uniform des Vertragspartners. Die Stationen T., L. und I. waren als reine Wet-Lease-Stationen vorgesehen und die Stationen K. und N. als gemischte Stationen. Von den Stationen A. und G. sollte nur eigenwirtschaftlich geflogen werden.

Unter dem 15.08.2017 beantragte die Schuldnerin beim zuständigen Insolvenzgericht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen bei Eigenverwaltung. Das Gericht ordnete mit Beschluss vom gleichen Tag (Az. 36a IN 4295/17) zunächst die vorläufige Eigenverwaltung an. Der Beklagte wurde am 16.08.2017 zum vorläufigen Sachwalter bestellt. Es wurde ein vorläufiger Gläubigerausschuss eingesetzt. Danach wurde von der Schuldnerin eine Investorensuche eingeleitet, die eine Fortführung des Geschäftsbetriebs im Rahmen einer über...

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