Entscheidungsstichwort (Thema)

Mittelbare Benachteiligung von Menschen mit Behinderung durch Tarifvertrag. Unzulässige Benachteiligung von Menschen mit Handicap durch § 10 Ziffer 1 Satz 2 TV Altersteilzeit Eisen- und Stahlindustrie NRW v. 20.06.2000 wegen geringerer Abfindung. Anpassungsanspruch nach oben bei Benachteiligung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Anwendung der Regelung des § 10 Ziffer 1 Satz 2 des Tarifvertrages über Altersteilzeit in der Eisen- und Stahlindustrie NRW vom 20.06.2000 in der Fassung vom 06.03.2013 in der Weise, dass der Abfindungsanspruch des über die Inanspruchnahme von Altersteilzeit vor dem Zeitpunkt des Anspruchs auf ungeminderte Altersrente ausscheidenden Arbeitnehmers deshalb geringer ausfällt, weil er 24 Monate früher als ein vergleichbarer nicht schwerbehinderter Arbeitnehmer nach § 236a SGB VI (ungeminderte) Altersrente für schwerbehinderte Menschen beanspruchen kann, begründet eine ungerechtfertigte mittelbare Benachteiligung wegen der Behinderung.

2. Rechtsfolge dieser mittelbaren Benachteiligung ist eine Anpassung nach oben in der Weise, dass die Tarifregelung so anzuwenden ist, wie sie für einen vergleichbaren nicht schwerbehinderten Arbeitnehmer gelten würde.

 

Normenkette

AGG §§ 1, 3 Abs. 2, §§ 7, 10 S. 3 Nr. 6; SGB VI §§ 236, 236a; ArbGG § 64; ZPO § 91 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Krefeld (Entscheidung vom 25.06.2020; Aktenzeichen 1 Ca 250/20)

 

Tenor

  • I.

    Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Krefeld vom 25.06.2020 - Az.: 1 Ca 250/20 - abgeändert und die Beklagte verurteilt, an den Kläger 11.757,12 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.12.2019 zu zahlen.

  • II.

    Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

  • III.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über eine Abfindungszahlung aus dem von ihnen vereinbarten Altersteilzeitvertrag in Verbindung mit dem Tarifvertrag über Altersteilzeit in der nordrhein-westfälischen Stahlindustrie und in diesem Zusammenhang über eine mittelbare Benachteiligung des Klägers wegen seiner Behinderung.

Der am 11.11.1956 geborene, schwerbehinderte Kläger war bis 30.11.2019 bei der Beklagten, die ein Stahlunternehmen betreibt, in einem Arbeitsverhältnis beschäftigt, auf das kraft vertraglicher Bezugnahme die Tarifverträge der Stahlindustrie in Nordrhein-Westfalen und damit insbesondere auch der Tarifvertrag über Altersteilzeit in der Eisen- und Stahlindustrie NRW vom 20.06.2000 in der Fassung vom 06.03.2013 (im folgenden TV ATZ genannt) Anwendung fanden. Der TV ATZ enthält unter anderem folgende Regelung:

"§ 10

Abfindung

1. Endet das Altersteilzeitarbeitsverhältnis vor dem Zeitpunkt, ab dem ein Anspruch auf eine ungeminderte Altersrente besteht, erhält dieser für den Verlust seines Arbeitsplatzes eine Abfindung. Die Abfindung errechnet sich aus einem Betrag, der mit der Zahl der vollen Kalendermonate - höchstens jedoch 48 Kalendermonaten - multipliziert wird, die zwischen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und dem Zeitpunkt, an dem der Arbeitnehmer Anspruch auf ungeminderte Altersrente gehabt hätte, liegen.

2. [...]

3. Die Abfindung beträgt für Beschäftigte, deren Altersteilzeitarbeitsvertrag ab dem 06.03.2013 geschlossen wurde, und

- die innerhalb der letzten fünf Jahre vor Antragstellung gem. § 4 mindestens 1080 Tage nach Schichtplan in kontinuierlicher Wechselschicht gem. § 4 Ziff. 1 MTV eingesetzt waren, 435,-- EUR,

- die im genannten Zeitraum nach Schichtplan in Wechselschicht, die regelmäßig auch Nachtschichten einschloss, eingesetzt waren, 320,-- EUR.

Für alle anderen Vollzeitbeschäftigten beträgt die Abfindung 260,-- EUR.

4. [...]

5. [...]

6. Die in Ziff. 3 genannten Abfindungsbeträge werden ab dem 01.01.2014 um 2 Prozent erhöht.

7. Die Abfindung wird bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig."

Auf der Grundlage eines Sozialplans vom 04.05.2012 vereinbarten die Parteien am 15.05.2013 einen Altersteilzeitarbeitsvertrag (Anlage K1, Blatt 13 ff. der Akte). Dieser sah eine Laufzeit vom 01.12.2013 bis zum 30.11.2019 vor. In § 11 des Altersteilzeitarbeitsvertrages war zudem geregelt, dass der Kläger "bei Ausscheiden eine Abfindung entsprechend den tariflichen und betrieblichen Bestimmungen" erhält. Zusätzlich erhielt er eine Turboprämie gemäß Sozialplan in Höhe von 10.000,- € brutto.

In den letzten fünf Jahren vor Beantragung der Altersteilzeit war der Kläger mindestens 1080 Tage nach Schichtplan in kontinuierlicher Wechselschicht gemäß § 4 Ziffer 1 MTV Eisen- und Stahlindustrie NRW eingesetzt worden.

Am 30.08.2016 legte der Kläger einen Schwerbehindertenausweis bei der Beklagten vor. Für die Zeit ab dem 01.12.2019 beantragte der Kläger eine vorgezogene Altersrente für schwerbehinderte Menschen, die mit Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Rheinland vom 11.12.2019 bewilligt wurde. Als schwerbehinderter Mensch hatte der Kläger bereits ab 01.10.2020 Anspruch auf eine abschlagsfreie Altersrente, während er eine solche ohne die Behinderung erst ab 01.10.2022 hätte be...

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