Entscheidungsstichwort (Thema)

Anrechnung einer Anwesenheitsprämie auf den gesetzlichen Mindestlohn

 

Leitsatz (redaktionell)

Eine Anwesenheitsprämie, die bei 1-3 Krankheitstagen im Monat gekürzt und bei 4 und mehr Krankheitstagen gänzlich gestrichen wird, ist auf den gesetzlichen Mindestlohn anzurechnen.

 

Normenkette

MiLoG § 1

 

Verfahrensgang

ArbG Bremen-Bremerhaven (Entscheidung vom 05.11.2015; Aktenzeichen 9 Ca 9117/15)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 11.10.2017; Aktenzeichen 5 AZR 621/16)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bremen-Bremerhaven vom 5. November 2015 - 9 Ca 9117/15 - abgeändert und die Klage abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.

3. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Anrechnung einer Anwesenheitsprämie auf den gesetzlichen Mindestlohn.

Die Klägerin ist bei der Beklagten seit dem 19. Mai 1999 als geringfügig Beschäftigte in der Vorbereitung beschäftigt. Ausweislich des letzten schriftlichen Arbeitsvertrages vom 31. Oktober 2014 erhielt die Klägerin seit dem 1. Januar 2015 "in Anlehnung an das Mindestlohngesetz" eine Stundenvergütung von 8,50 € (vgl. Bl. 13 ff. d. A.). Die Beklagte zahlte an die Klägerin bis Ende 2014 eine sogenannte "Anwesenheitsprämie". Diese Zahlung basierte auf einem Anschreiben an alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus Mai 1996. In diesem Schreiben heißt es wörtlich:

"...Die Anwesenheitsprämie stellt sich wie folgt dar:

Jede/r Mitarbeiter/in (ohne s. Punkt "Ausnahmen") erhält pro Monat eine Prämie von DM 100,00

Voraussetzung: Jeden Arbeitstag anwesend sein.

Bei 1-3 Krankheitstagen reduziert sich die Prämie auf DM 25,00

Bei mehr als 3 Tagen Krankheit entfällt die Prämie.

Weiterhin gibt es noch eine zusätzliche Quartalsprämie von DM 100,00

Voraussetzung: Alle 3 Monate jeden Arbeitstag anwesend sein.

Bei bereits einem Krankheitstag in dem Quartal entfällt diese Prämie.

Ausnahmen: Ausgenommen von dieser Regelung sind Geschäftsführer, Niederlassungsleiter, Vertriebsbeauftragte und Mitarbeiter, die sich noch in der Probezeit befinden.

..."

Betriebsrat und Beklagte haben in einer Betriebsvereinbarung vom 12./20. April 2007 (Bl. 34-39 d.A.) Folgendes geregelt:

"V. Anwesenheitsprämie

Die bestehenden Regelungen zur Gewährung einer Anwesenheitsprämie (Monats- sowie Quartalsprämie) bleiben bestehen."

Seit Februar 2015 rechnete die Beklagte die Anwesenheitsprämie bis zur Erreichung des Mindestlohns im Rahmen des Pauschallohns ab und zahlte entsprechend der Abrechnung aus. Im Übrigen zahlte sie den darüber hinausgehenden Betrag der Anwesenheitsprämie bei entsprechender Anwesenheit aus. Mit ihrer am 30. April 2015 und 28. August 2015 beim Gericht eingereichten Klagerweiterungen machte die Klägerin die Auszahlung von Anwesenheitsprämien für die Monate Januar bis Mai 2015 geltend. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin die Klage teilweise - bezogen auf den geltend gemachten Weihnachtsgeldbetrag und die Anwesenheitsprämie für den Monat Januar 2015 - zurückgenommen.

Die Klägerin hat vorgetragen, die Anrechnung der Anwesenheitsprämie auf den gesetzlichen Mindestlohn sei rechtswidrig. Diese Zahlung sei nicht funktionell gleichwertig mit dem Mindestlohn. Sinn und Zweck des MiLoG sei es, angemessene Arbeitsbedingungen herzustellen. Der Gesetzgeber wolle u.a. Sozialversicherungssysteme stützen, die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern, vor unangemessen niedriger Entlohnung schützen sowie einem Verdrängungswettbewerb über Lohnkosten entgegenwirken. Die Bundesregierung gehe davon aus, dass die Rechtsprechungslinien zum Mindestlohn nach dem AEntG und der Entsendungsrichtlinie auf den gesetzlichen Mindestlohn zu übertragen seien. Der EuGH gehe dabei davon aus, dass Zahlungen, die das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung verändern würden, keinen Mindestlohn im Sinne der Richtlinie darstellen könnten. Deshalb sei ein "Mehr" an Leistungen unter besonderen Bedingungen nicht anrechenbar. Anrechenbar seien nur Leistungen für die Normalleistung. Mit der Festlegung auf 8,50 € pro Stunde regele der Gesetzgeber, dass diese Arbeitsbedingungen im Normalfall und nicht erst unter besonderen (und damit wechselnden) Bedingungen erreicht werden sollten. Mit einer Anrechnungsmöglichkeit würde man gleichzeitig einen regelmäßigen Lohn unter 8,50 € akzeptieren. Eine generelle Anrechenbarkeit von sämtlichen Entgeltbestandteilen, unabhängig davon, worauf sie beruhen würden, könne die Klägerin daher aus dem Sinn und Zweck des MiLoG nicht erkennen. Richtig sei, dass das Bundesarbeitsgericht strengere Maßstäbe ansetze im Zusammenhang mit dem AEntG. Aus verfassungsrechtlichen Erwägungen seien hier beim MiLoG aber andere Einbeziehungsregeln anzuwenden, da es um das Minimum eines Lohnsockels gehe. Es komme darauf an, ob eine Leistung im konkreten Fall das vergüte, was der Arbeitnehmer "normalerweise" tun müsse oder ob eine Zahlung überobligatorisch erfolge. Es sei darauf abzustellen, aus welchem Zweck der Arbeitgeber die Leis...

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