Entscheidungsstichwort (Thema)

Interessenausgleich mit Namensliste. Massenentlassung

 

Leitsatz (amtlich)

Der Begriff der Entlassung in §§ 17, 18 KSChG kann unter Anwendung nationaler Auslegungsregeln nicht im Sinne von Kündigungserklärung verstanden werden.

 

Normenkette

KSchG § 17 ff., § 1 Abs. 2; InsO § 125

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Entscheidung vom 07.06.2005; Aktenzeichen 79 Ca 8986/05)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 13.07.2006; Aktenzeichen 6 AZR 198/06)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 7. Juni 2005 – 79 Ca 8986/05 – wie folgt abgeändert:

  1. Die Klage wird abgewiesen.
  2. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.

II. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Rechtswirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung.

Die zum Zeitpunkt der Kündigung 53 Jahre alte Klägerin, die keine Unterhaltspflichten hat, ist seit dem 1. Juni 1988 bei der Fa. G. & M. GmbH in Berlin als Druckvorlagenherstellerin beschäftigt. Am 1. März 2005 wurde über das Vermögen dieser Arbeitgeberin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Am 18. März 2005 schloss der Beklagte mit dem Betriebsrat der Arbeitgeberin einen Interessenausgleich mit Namensliste. Gegenstand war die Personalreduzierung um 13 Mitarbeiter, zu diesem Zeitpunkt waren bei der Arbeitgeberin 75 Mitarbeiter beschäftigt. Die Klägerin ist unter den zu kündigenden Arbeitnehmern im Interessenausgleich unter Nr. 1 aufgeführt (Ablichtung des Interessenausgleichs Blatt 23 bis 25 der Akte). Mit Schreiben vom 30. März 2005, der Klägerin nach ihrem Vortrag am 1. oder 2. April, nach dem Vortrag der Beklagten am 31. März 2005 um 13.50 Uhr zugegangen, kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin zum 30. Juni 2005. Unter dem Datum des 25. April 2005 erstattete er bei der Arbeitsagentur eine Massenentlassungsanzeige, wegen deren Inhalts auf Blatt 26 bis 30 der Akte verwiesen wird. Der Anzeige war der Interessenausgleich vom 18. März 2005 beigefügt. Danach sollten zum 30. Juni 2005 neun Arbeitnehmer, darunter die Klägerin, zum 31. Mai 2005 ein Arbeit-nehmer und zum 30. April 2005 noch zwei Arbeitnehmer entlassen werden (Blatt 30 der Akte).

Am 15. April 2005 hat die Klägerin gegen die Kündigung beim Arbeitsgericht Klage erhoben, die ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung bestritten und die Unwirksamkeit der Kündigung wegen Verstoßes gegen die Vorschriften zur Massenentlassungsanzeige geltend gemacht.

Mit Urteil vom 7. Juni 2005 hat das Arbeitsgericht der Kündigungsschutzklage stattgegeben und antragsgemäß festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Beklagten mit Schreiben vom 30. März 2005 nicht aufgelöst worden ist. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Kündigung sei wegen fehlerhafter Massenentlassungsanzeige unwirksam. Nach den vorliegenden Zahlen sei davon auszugehen, dass mehr als 10 % der regelmäßig Beschäftigten innerhalb von 30 Kalendertagen gekündigt worden seien, so dass Anzeigepflicht nach § 17 KSchG bestanden habe. Unter Berücksichtigung der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Urteil vom 27. Januar 2005 hätte der Beklagte daher vor Ausspruch der Kündigung eine Anzeige bei der zuständigen Arbeitsagentur erstatten müssen. Dies ergäbe die richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts. Da der Beklagte diese Anzeige erst nach der Kündigung abgegeben habe, sei die Kündigung unwirksam. Auf Vertrauensschutz könne sich der Beklagte nicht berufen, da er die Kündigung erst nach Verkündung der EuGH-Entscheidung ausgesprochen habe.

Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils, Blatt 40 bis 42 der Akte, verwiesen.

Gegen dieses, ihm am 24. Juni 2005 zugestellte Urteil richtet sich die am 22. Juli 2005 beim Landesarbeitsgericht Berlin eingegangene und am 24. August 2005 begründete Berufung des Beklagten. Er vertritt die Auffassung, die kündigungsschutzrechtlichen Regelungen zur Massenentlassung seien einer Auslegung im Sinne der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs nicht zugänglich. Unter Anwendung der kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften habe er sich gesetzeskonform verhalten. Er trägt vor, sämtliche von der Klägerin bisher verrichteten Tätigkeiten fielen unter den Tätigkeitsbereich „Druckvorlagenherstellerin”, hierzu gäbe es keine vergleichbaren Arbeitnehmer, so dass eine Sozialauswahl nicht durchzuführen gewesen sei.

Der Beklagte und Berufungskläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 7. Juni 2005 – 79 Ca 8986/05 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin und Berufungsbeklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil und vertritt weiterhin die Auffassung, die Wirksamkeit der Kündigung scheitere bereits an einer ordnungsgemäß durchgeführten Massenentlassung. Darüber hinaus rügt sie die Sozialauswahl und meint, sie sei auch mit Mitarbeitern anderer Bereiche vergleichba...

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