Entscheidungsstichwort (Thema)

Massenentlassungsanzeige und Konsultationsverfahren im Anschluss an Interessenausgleichsverhandlungen und Einigungsstellenspruch. Betriebsbedingte Kündigung bei Betriebsstillegung nach Auftragsentzug durch die allein stimmberechtigte Gesellschafterin der Arbeitgeberin

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Stilllegung des gesamten Betriebs oder eines Betriebsteils durch die Arbeitgeberin gehört zu den dringenden betrieblichen Erfordernissen im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 Alt. 3 KSchG, die einen Grund zur sozialen Rechtfertigung einer Kündigung abgeben können.

2. Eine unternehmerische Entscheidung ist gerichtlich nicht auf ihre sachliche Rechtfertigung und ihre wirtschaftliche Sinnhaftigkeit oder Zweckmäßigkeit sondern nur darauf zu überprüfen, ob sie offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist. Für eine beschlossene und tatsächlich durchgeführte unternehmerische Organisationsentscheidung spricht die Vermutung, dass sie aus sachlichen und damit nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen getroffen wurde.

3. Ein Rechtsmissbrauch ergibt sich nicht allein aus einer engen wirtschaftlichen Verflechtung der an der Auftrags(neu)vergabe beteiligten Unternehmen. Auch der Umstand, dass die einzige Auftraggeberin und zugleich allein stimmberechtigte Gesellschafterin der Arbeitgeberin dieser als ihrer Subunternehmerin sämtliche Aufträge gekündigt hat und dadurch die Betriebsschließung der Arbeitgeberin unumgänglich gemacht hat, ist als solcher nicht rechtsmissbräuchlich.

4. Schließen die Betriebsparteien das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG an Interessenausgleichsverhandlungen an, ist der Betriebsrat “rechtzeitig„ informiert worden, wenn er die für das Konsultationsverfahren erforderlichen Informationen bereits im Rahmen des Interessenausgleichsverfahrens erhalten hat.

5. Fehlt es an einer abschließenden Stellungnahme des Betriebsrates, kann die Arbeitgeberin nach § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG verfahren und zwei Wochen nach vollständiger Unterrichtung des Betriebsrats gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG unter Darlegung des Stands der Beratung Massenentlassungsanzeige erstatten.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 2, § 17 Abs. 1-3, 3a; BetrVG § 102 Abs. 1 S. 3, § 113 Abs. 3; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 3; BetrVG § 111 Sätze 1, 3 Nr. 1, § 112; BGB § 242

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Entscheidung vom 21.07.2015; Aktenzeichen 7 Ca 2493/15)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Teilurteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 21.07.2015 - 7 Ca 2493/15 - abgeändert und die Klage hinsichtlich des Feststellungsantrags betreffend die Kündigung vom 29.01.2015 sowie hinsichtlich des Hilfsantrages betreffend den Nachteilsausgleich abgewiesen.

II. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung und über einen hilfsweise geltend gemachten Anspruch der Klägerin auf Zahlung eines Nachteilsausgleichs.

Die bei Zugang des Kündigungsschreibens 48-jährige Klägerin war seit dem 01. Oktober 1990 bei der Beklagten und ihrer Rechtsvorgängerin beschäftigt, zuletzt vollzeitig als Personaldienstplanerin gegen eine monatliche Vergütung von 3.418,79 € brutto.

Die im Jahr 2011 gegründete Beklagte erbrachte seit Mai 2012 Passagedienstleistungen auf den Flughäfen Berlin-Tegel und Schönefeld für ihre alleinige Auftraggeberin, die G Berlin GmbH & Co. KG (GGB), die zugleich Kommanditistin der Beklagten und allein stimmberechtigte Gesellschafterin ist. Die Beklagte und die GGB gehören zur W-Gruppe, die etwa 80 % der Bodendienstleistungen am Flughafen Berlin-Tegel erbringt. Die GGB führte als Rechtsvorgängerin der Beklagten sämtliche Vorfeld- und Passagedienstleistungen an den Flughäfen Tegel und Schönefeld mit ihrem Betrieb durch. Sie spaltete ihren Betrieb im Jahr 2011 in die vier Bereiche Verwaltung, Passage, Vorfeld und Werkstatt mit jeweils rechtlich eigenständigen Betrieben auf, von denen die Beklagte seit Mai 2012 die Passagedienstleistungen übernahm. Im Juni 2014 spaltete die Beklagte ihren Betrieb in die Betriebsteile Tegel und Schönefeld auf und übertrug den Betriebsteil Schönefeld im Wege eines Betriebsüberganges auf eine neu gegründete Gesellschaft. Die GGB beschäftigt neben der Geschäftsführerin keine Arbeitnehmer mehr, die Beklagte beschäftigte zuletzt etwa 190 Arbeitnehmer. Komplementärinnen der Beklagten und der GGB sind jeweils Gesellschaften mit beschränkter Haftung, deren Gesellschafter natürliche Personen sind. Kommanditistin der GGB ist ein Unternehmen der W-Gruppe.

Auf die Arbeitsverhältnisse der GGB als Rechtsvorgängerin der Beklagten fanden die Vergütungstarifverträge der GGB Anwendung. Seit September 2013 sind allgemeinverbindliche Tarifverträge (MTV und VTV) für Bodendienstleistungen in Berlin und Brandenburg in Kraft getreten, die im Bereich der Vergütung deutlich unterhalb der früheren Vergütungstarifverträge der GGB liegen. Für die Altbeschäftigten der Beklagte...

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