Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtmäßiger Streik zur Erzwingung einer Mindestbesetzungsregelungen in der Pflege sowie zur Einsetzung eine Gesundheitskommission an Universitätsklinik. Unbegründeter Eilantrag der Arbeitgeberin gegen die Gewerkschaft ver.di auf Unterlassung von Arbeitskampfmaßnahmen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Nicht rechtswidrig sind Eingriffe in den Gewerbebetrieb, wenn sie als Arbeitskampfmaßnahmen zulässig sind (vgl. BAG 22. September 2009 - 1 AZR 972/08, Rn. 23). Zentraler Maßstab für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Streiks ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. BAG 19. Juni 2007 - 1 AZR 396/06, Rn. 22).

2. Der Arbeitgeber ist durch die sich aus Firmentarifverträgen ergebende Friedenspflicht gegen einen Streik geschützt, der auf den Abschluss von Tarifverträgen über dieselbe Regelungsmaterie gerichtet ist (vgl. BAG 10. Dezember 2002 - 1 AZR 96/02, Rn. 39). Die Friedenspflicht im Rahmen abgeschlossener Haustarifverträge stand dem Streik um einen Tarifvertrag mit dem Ziel eines Überlastungsschutzes hier nicht entgegen.

3. Bei den angestrebten tariflichen Regelungen geht es um Überlastungsschutz mit dem Ziel der Anpassung der Arbeitsintensität an die psychischen und physischen Möglichkeiten der Belegschaftsmitglieder, dh. an das Leistbare, und nicht um eine höhere Vergütung für geleistete Arbeit. Äquivalent der Vergütung ist eine Arbeitsleistung, die der jeweiligen persönlichen Leistungsfähigkeit entspricht. Die angestrebte Tarifregelung soll sicherstellen, dass die Möglichkeit des Arbeitgebers eingeschränkt wird, den Belegschaftsmitgliedern Arbeitsdichten bzw. -leistungen abzuverlangen, die "vor dem Hintergrund von Sachzwängen" über das hinausgehen, was der Leistungsfähigkeit und damit der vertraglich an sich geschuldeten Arbeitsleistung entspricht.

4. Die Gewerkschaft verfolgt insoweit auch legitime Ziele. Quantitative Besetzungsregeln sind als tariflich regelbare Ziele durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts seit langem anerkannt (vgl. BAG 17. Juni 1999 - 2 AZR 456/98, Rn. 16, zu quantitativen Besetzungsregelungen, die die Mindestanzahl der an bestimmten Maschinen zu beschäftigenden Hilfskräfte festlegen, mwN.; 19. Juni 1984 - 1 AZR 361/82, Rn. 52, zur Stärke der Cockpitbesatzung; 11. Dezember 2012 - 1 ABR 81/11, dort als selbstverständlich unterstellt; ErfK/Schmidt Art. 12 GG Rn. 45). Gerade die Einflussnahme des Arbeitgebers auf die Belastung der Belegschaftsmitglieder in einem Personalbemessungssystem kann durch betriebliche Normen geregelt werden. Diese gelten nach § 3 Abs. 2 TVG für alle Betriebe des Arbeitgebers (vgl. BAG vom 3. April 1990 - 1 AZR 123/89, Rn. 25).

5. Die tarifvertragsfreie Unternehmensautonomie geht nicht so weit, dass die Gewerkschaften darauf beschränkt sind, nur soziale Folgewirkungen unternehmerischer Entscheidungen zu regeln (vgl. BAG 3. April 1990 - 1 AZR 123/89, Rn. 29). Das macht deutlich, dass es einen durch einen Arbeitskampf durchsetzbaren Einfluss auf die Arbeitsintensität gibt, der insbesondere auch nicht darauf beschränkt ist, eine (noch) weitere Arbeitsverdichtung zu verhindern, sondern es auch ermöglicht, Entlastungsregeln zu verlangen.

6. Der Streik ist hier - gemessen an den durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Kriterien - geeignet, erforderlich, insbesondere aber auch angemessen. Die Parteien haben eine Notdienstvereinbarung getroffen, die nach ihrer übereinstimmenden Darstellung in der Berufungsverhandlung gut funktioniert, ohne dass es zu Risiken im Rahmen der Daseinsvorsorge gekommen wäre.

 

Normenkette

GG Art. 9; BGB § 823; ArbGG § 62; GG Art. 9 Abs. 3; BGB § 823 Abs. 1; ArbGG § 62 Abs. 2; ZPO §§ 935, 940, 944

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Entscheidung vom 19.06.2015; Aktenzeichen 60 Ga 8417/15)

 

Tenor

1. Die Berufung der Verfügungsklägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 19. Juni 2015 - 60 Ga 8417/15 - wird zurückgewiesen.

2. Die Verfügungsklägerin hat die Kosten der Berufung zu tragen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über einen Anspruch der Verfügungsklägerin auf Unterlassung von Arbeitskampfmaßnahmen durch die beklagte Gewerkschaft, mit denen diese im Wesentlichen Mindestbesetzungsregelungen in der Pflege sowie die Einsetzung eine Gesundheitskommission durchsetzen möchte.

Bei der Verfügungsklägerin handelt es sich um die größte Universitätsklinik Europas, bei der Verfügungsbeklagten um die Gewerkschaft ver.di. Die Verfügungsklägerin beschäftigt in der Pflege (ohne Leiharbeitnehmer) 4.074 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf 3.416 Vollzeitstellen.

Im Jahr 2011 trafen die Parteien eine Notdienstvereinbarung für den Streikfall. Im Juli 2011 vereinbarten sie nach einem Arbeitskampf Haustarifverträge (Manteltarifvertrag, Entgelttarifvertrag und Überleitungstarifvertrag). Diese Tarifverträge sind frühestens zum Ablauf des 31. Dezember 2016 kündbar.

Am 18. Juni 2012 forderte die Verfügungsbeklagte die Verfügungsklägerin zum Abschluss weiterer Tarifverträge, ua. zum...

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